Stuttgart: „Sancta“, Paul Hindemith u. a.

© Matthais Baus

An der Stuttgarter Staatsoper ist am Tag der deutschen Einheit die bereits aus der letzten Spielzeit stammende Produktion Sancta wieder aufgenommen worden. Die Aufführung geriet zu einem großen Erfolg für alle Beteiligten. Waren die Reaktionen bei der Premiere in der vergangenen Spielzeit noch gespalten, erfreute sich das Werk jetzt enormen Zuspruchs. Gab es letztes Jahr noch einige Zuschauer, denen angesichts der oft krassen visuellen Eindrücke schlecht wurde und die deshalb den Zuschauerraum verlassen mussten, war die Situation bei dieser Wiederaufnahme besser. Zwar gingen auch dieses Mal wieder einige Zuschauer, und das noch ziemlich zu Beginn der Vorstellung, als es auf der Bühne noch nicht sonderlich krass zuging, insgesamt war aber zu konstatieren, dass die Zuschauer nun doch abgehärtet waren und das Gesehene durchaus akzeptierten. Offenbar wusste das Publikum bereits, was es zu erwarten hatte und war eher neugierig als abgestoßen. Die bekannte Wiener Choreographin und Regisseurin Florentina Holzinger hat zusammen mit Nikola Knezevic (Bühnenbild und Kostüme) und ihrem äußerst engagierten Team wahrlich ganze Arbeit geleistet. Diese ausgesprochen kurzweilige Produktion geriet zu einem wahren Paukenschlag, der der Stuttgarter Staatsoper alle Ehre machte.

Eingangs war Paul Hindemiths nur 25 Minuten dauernde Oper Sancta Susanna zu erleben. Dieser beachtliche Einakter sollte an der Staatsoper Stuttgart bereits im Jahre 1921 aus der Taufe gehoben werden. Der damalige Dirigent, der das Werk für blasphemisch hielt, legte jedoch sein Veto gegen die Uraufführung ein, so dass diese an der Württembergischen Staatsoper damals nicht stattfinden konnte. Ein Jahr später wurde sie in Frankfurt am Main nachgeholt. Als Vorlage diente Hindemith August Stramms Ein Gesang der Mainacht. Von Stramm stammt auch das Textbuch zu Sancta Susanna.

© Matthais Baus

Zunächst ein paar Worte zu Hindemiths und Stramms Oper: In einer angenehmen Mainacht begeben sich zwei Nonnen, Susanna und Klementia, zum Altar. Klementia macht Susanna mit der Geschichte der Nonne Beata vertraut. Diese hatte sich vor langer Zeit versündigt, in dem sie unbekleidet zu dem gekreuzigten Christus hinaufstieg, ihn umarmte und küsste. Daraufhin wurden die Lenden von Jesus verhüllt, die ewige Kerze angezündet und Beata zu guter Letzt lebendig eingemauert. Diese Geschichte hinterlässt bei Susanna einen gewaltigen Eindruck. Sie tut es Beata gleich und gibt sich, beflügelt durch ein lesbisches Paar im Hintergrund, dem Gekreuzigten hin. Die Konsequenz dieser Tat ist, dass sie von den übrigen Nonnen mit einem Bann belegt wird.

Bereits mit der Realisierung dieser kurzen Oper ist Frau Holzinger ein kleines Meisterstück gelungen. Auf der fast leeren Bühne stellt sie sehr einfühlsam das Seelenleben der beiden Nonnen in den Vordergrund. Sie interpretiert die Handlung als ein Erweckungserlebnis Susannas, die um Selbstbefreiung und sexuelle Selbstfindung kämpft. Auf einem Kranroboter steht das ewige Licht. Rechts im vorderen Teil der Bühne befindet sich die Mauer, in der Beata ihr Leben augenscheinlich noch nicht ausgehaucht hat. Zumindest befreit sie sich mit einem existentiellen Schrei aus ihrem steinernen Gefängnis. Im hinteren Teil der Bühne ragt eine Kletterwand auf. Auf dieser vergnügt sich das bereits erwähnte lesbische Paar mit sexuellen Spielchen. Am Ende legt Susanna sämtliche Kleider ab und bleibt für längere Zeit splitternackt auf der Bühne stehen, die sie erst nach einer guten Weile verlässt. Mit diesem Nacktauftritt hat die Sängerin Caroline Melzer enormen Mut bewiesen, zu dem ihr herzlich zu gratulieren ist. Auch sonst war sie hervorragend. Schon darstellerisch ging sie voll in ihrer Rolle auf. Und auch gesanglich vermochte sie mit ihrem tiefgründigen Sopran gut zu überzeugen. Eindringlich und intensiv sang Andrea Baker die Klementia. In der Partie der alten Nonne gefiel Emma Rothmann.

Dieser Einakter von Paul Hindemith war schon in hohem Maße beeindruckend. Zusätzlich konnte man an diesem gelungenen Abend noch Musik von Bach, Gounod, Rachmaninow und Cole Porter vernehmen. Vielfältige neue Klänge steuerte zudem die moderne Komponistin Johanna Doderer bei. Daraus resultierte ein ansprechendes Potpourri aus Opernmusik, Musical, Filmmusik, Techno, Pop und Heavy Metal, das von der brillant dirigierenden Marit Strindlund großartig ausgelotet wurde. Sowohl die klassischen Musikelemente als auch die aus der U-Musik stammenden Passagen wurden von ihr intensiv vor den Ohren des Publikums ausgebreitet. Das bestens disponierte Staatorchester Stuttgart folgte ihren Anweisungen präzise und mit großem Einfühlungsvermögen. Dabei drehte die Dirigentin den Orchesterapparat oft gewaltig auf. Aber das ist Ausfluss des jeweiligen Werkes.

© Matthais Baus

Der Löwenanteil der gelungenen Produktion wird von einer katholischen Messe eingenommen, in der es in gleicher Weise um Entgrenzung und sexuelle Befreiung geht wie zu Beginn in Sancta Susanna. Hier bringt Frau Holzinger vom Kyrie bis zum Sanctus einige Effekte der besonderen Art ins Spiel. Gekonnt konfrontiert sie die Dämonisierung Susannas mit der weitergehenden Frage, warum die weibliche Sexualität in der Katholischen Kirche derart in Misskredit geraten ist. Die Antwort darauf zieht sich durch die ganze Aufführung, die von eindrucksvollen, häufig sehr krassen Bildern dominiert wird. Als Hauptmittel dient Florentina Holzinger hier die totale Nacktheit ihres durch die Bank weiblichen Teams, unter das sich die Choreographin und Regisseurin sogar selbst mischte. Auch dieses Mal nahm sie am Ende den Applaus des begeisterten Auditoriums gänzlich nackt entgegen – ebenso wie auch ihr Team. Hier handelt es sich schon um sehr mutige Damen, denen man Respekt zollen muss. Den Mut zur gänzlichen Hüllenlosigkeit auf der Bühne bringt nicht jedermann oder besser gesagt -frau auf. Dem nackten weiblichen Körper kommt hier die Funktion zu, einen Zusammenhalt zu schaffen. Dies vollzieht sich durch die unterschiedlichsten Rituale, die die Entwicklung eines Gemeinschaftserlebnisses intendieren. Diese starke Betonung der Nacktheit trägt sicher auch dem voyeuristischen Element Rechnung, im Vordergrund steht aber ganz eindeutig der musiktheatralische Aspekt. Das Hauptanliegen von Florentina Holzinger besteht darin, ein kritisches Licht auf die ausgemachte Frauenfeindlichkeit der Katholischen Kirche zu werfen und diese gnadenlos an den Pranger zu stellen. Nachhaltig zieht sie in ihrer Inszenierung gegen die Unterdrückung weiblicher Körperlichkeit zu Felde.

Viele Einzelheiten von Frau Holzingers eindringlicher Regie brannten sich gehörig dem Gedächtnis ein. Hier sind an erster Stelle das überdimensionale bewegliche Kreuz und die imposante Weihrauchschaukel zu erwähnen. Den lebendigen Klöppel der Glocke bildet eine nackte Frau. Unbekleidete Nonnen rasen in Rollschuhen über eine Halfpipe und eine kleinwüchsige Päpstin leitet die Messe. Einen köstlichen Eindruck hinterließ der E-Zigaretten rauchende Jesus, der von der Regisseurin als ausgemachter Hippie gedeutet wird. So manches, was er in prägnanter englischer Diktion von sich gab, wirkte ausgesprochen lustig. Da gab es auch mal Szenenapplaus.

© Matthais Baus

Das berühmte Bild aus der Sixtinischen Kapelle, auf dem Gott Adam zum Leben erweckt, wird kurzerhand dem Erdboden gleichgemacht. Einer auf einer OP-Bahre liegenden Frau entnehmen die Teilnehmerinnen der Messe unter Zuhilfenahme eines Skalpells ein winziges Stück Fleisch. Dieses wird wenig später gebraten und anschließend beim Abendmahl verzehrt. Dieser Regieeinfall geht mit der Beichte von mannigfaltigen Verfehlungen einher. Hier kommt auch dem Inhalt von Caravaggios bekanntem Bild Der ungläubige Thomas zentrale Relevanz zu: In dem Fleisch befindet sich ein abgetrennter Finger. Diese Szene wirkte ausgesprochen drastisch. Heiterkeit erweckten dagegen die zahlreichen Theatertricks, die die Handlung in die Nähe einer Zirkusdarbietung rückten. Dazu gehörte zum Beispiel die magische Vermehrung von Weinflaschen durch den weiblichen Heiligen Geist. Ein hervorragender Coup de théatre war die Einbeziehung von Zuschauerraum und Publikum in das ausgelassene Treiben. Hier stellte Frau Holzinger trefflich unter Beweis, dass sie mit Brecht umzugehen weiß. Ihr Fazit am Schluss lautet schließlich Don`t dream it, be it. Auf die Aufforderung einer Mitspielerin hin erhoben sich die Besucher an dieser Stelle von ihren Plätzen und setzten sich auch beim Applaus nicht wieder hin. Das war eine absolut erstklassige Aufführung, die hoffentlich noch lange auf dem Spielplan der Staatsoper Stuttgart steht.

Ludwig Steinbach, 4. Oktober 2025


Sancta
Paul Hindemith u. a.
Staatsoper Stuttgart

Premiere: 5. Oktober 2024
Besuchte Aufführung: 3. Oktober 2025

Performance und Inszenierung: Florentina Holzinger
Musikalische Leitung: Marit Strindlund
Staatsorchester Stuttgart