Man könnte es sich einfach machen und diesen Abend als eine aus dem Ruder gelaufene Regisseurstheater-Arbeit beschreiben. Im Netz kursiert seit geraumer Zeit eine Opern-Regietheater-Bingo-Karte. Hätte man diese bei der Aufführung im Saal verteilt, wäre fortlaufend „Bingo!“ gerufen worden.

Es beginnt mit einer inszenierten Ouvertüre (Bingo). Ein Scheinwerfer setzt seinen Spot auf eine Zuschauerin, welche verwirrt tut, scheinbar zögernd ihren Platz verläßt und auf die Bühne klettert (Bingo), wo ein modernes Apartment auf sie wartet. Auf einem Bildschirm darin läuft ein Videogame (Assassins). Wie in einem Traum (Bingo) begibt sie sich in die eigentliche Opernhandlung: Die Apartment-Wände verschwinden und geben den Blick auf eine Kulisse dahinter frei, welche detailreich die schwarz-weiß-Skizze (Bingo) eines Renaissance-Palastes zeigt. Der erste Akt läuft dann demonstrativ altmodisch mit historisierenden Kostümen in der vorgesehenen Epoche, nämlich der Mitte des 17. Jahrhunderts, ab und wird so gezeigt, wie der Librettist es sich ausgedacht hat: Die stumme Fenella, ein einfaches Fischermädchen, hat ein Verhältnis mit Alphonse, dessen Vater der spanische Vizekönig ist. Die unstandesgemäße Liaison wird mit der Verhaftung Fenellas unterbunden. Das Mädchen kann sich befreien und wird von der spanischen Prinzessin Elvire in Obhut genommen. Elvire aber ist als standesgemäße Braut für Alphonse vorgesehen. Kurz vor deren Hochzeit werden die Zusammenhänge offenbar und Fenella flieht zu ihrem Bruder. Eine plausible Idee ist es, die titelgebende Stumme als Puppe zu zeigen (trotzdem: Bingo), welche von gleich zwei Schauspielerinnen (Bingo) geführt wird. Die skizzierten Kulissen wandeln sich zum Innenraum der im Libretto vorgesehenen Kapelle samt Kanzel, auf den Hintergrund werden wechselnde farbige Kirchenfenster aus mehreren Jahrhunderten projiziert. Alles bis dahin ordentlicher Regiestandard und in der Personenführung unauffällig , aber recht hübsch anzusehen. Daß die Stumme (beide Schauspielerinnen samt Puppe) sich vor dem zweiten Akt auf ein Floß inmitten des Zuschauerraums (Bingo) rettet, erscheint im Hinblick auf ihre Flucht nicht unplausibel, da der zweite Akt laut Libretto an einem Strand spielen soll. Live-Kameras (Bingo) filmen die Damen auf dem Floß, die Bilder werden auf der Bühne präsentiert. Danach wird tatsächlich ein Strand gezeigt, die Gesellschaft der Fischer betritt aus dem Zuschauerraums heraus die Bühne (Bingo). Fenella berichtet mit Gesten von ihrer Unbill, Bruder Masaniello und sein Kumpan Petro peitschen die Menge zum Sturz der spanischen Besatzer auf.

Auf diesen Moment hat der Regisseur Paul-Georg Dittrich gewartet, denn sein zuvor kommuniziertes Anliegen ist es, sich mit Revolutionen im Laufe der Zeit zu befassen. 1830 hatte das Publikum eine Aufführung der Stummen von Portici an der Brüsseler Oper nicht bis zu Ende angesehen, sondern hatte sich vom revolutionären Furor anstecken lassen, war gegen die verhaßte protestantische Mehrheit im Vereinigten Königreich der Niederlande auf die Barrikaden gegangen und setzte so den Ausgangspunkt für eine Revolution, an deren Ende die belgische Unabhängigkeit stand. Das Brüsseler Opernhaus wird dann auch als Bühne auf der Bühne gezeigt (Bingo). Daß seitdem diese Oper als Politkunst angesehen wird, ist ein Mißverständnis, dessen prominentester Verfechter Richard Wagner war. Ulrich Schreiber hat in seiner „Kunst der Oper“ zu Recht darauf hingewiesen, daß der Librettist die Ursache des als Vorbild dienenden realen Aufstands von 1647, den Zorn über eine von den Spaniern eingeführte Steuer, umgebogen hat zur Rache für ein Einzelschicksal. Schon Goethe hatte dazu scharfsinnig bemerkt, daß dadurch die Motivation banalisiert wurde und der Fischeraufstand zu einer „Satire auf das Volk“ gemacht worden sei. Im weiteren Verlauf wird dieses aufständische Volk als wankelmütig und schwach gezeichnet. Am Ende bittet es sogar um Vergebung für seine Revolte.

Hier nun wird die Inszenierung zunächst mit Lokalkolorit versehen (Einblendung: „der revolutionäre Funke springt von Brüssel auf Darmstadt über“ – Bingo). Man sieht in einem Einspielfilm, wie der in Darmstadt aufgewachsene Dichter und Revolutionär Georg Büchner in einem Sarg lebendig begraben wird. Er entzündet in seinem hölzernen Gefängnis ein Streichholz, hat offenbar auch Schreibzeug mitgenommen und kritzelt Worte auf Papier: „Glotzt nicht so romantisch!“ Das stammt zwar von Bertolt Brecht, ist aber egal. Nicht zuletzt an solchen Details wird deutlich, daß ein konsistentes Konzept nicht das Anliegen des Produktionsteams ist. Leider ist es auch nicht sein Anliegen, ein vergessenes Erfolgsstück des 19. Jahrhunderts wiederzuentdecken. Die Vorlage ist dem Regisseur offenbar suspekt. Nach den ersten beiden am Libretto orientierten Akten wird zum dritten Akt der Eiserne Vorhang heruntergelassen. Dahinter spielen Orchester und Sänger weiter, Bild und Ton werden elektronisch in den Saal übertragen (letzterer in lausiger Qualität). Schon bald bricht die Musik ab, und es treten Librettist und Regisseur auf (Bingo), welche sich über die Qualität des Stückes streiten (auf Deutsch). Die Primadonna gibt ebenfalls ihren Senf dazu (auf Englisch). Auch wenn es dann nach der Pause mit hochgezogenem Eisernen Vorhang weitergeht, wird der Verlauf nun immer wieder unterbrochen. Zuschauer gruppieren sich mit Schauspielern an Tischen und simulieren Gespräche (Bingo). Es erklingt ein Stimmengewirr, das die Ergebnisse einer Befragung wiedergibt, wofür man heutzutage eine Revolution anzetteln sollte. Diese zweite Hälfte der Aufführung ist damit ein Stopp-and-Go, bei dem Musik und Handlung fortwährend vom Palaver der „Bürger:innen“ (natürlich gegendert) unterbrochen werden. Schon im ersten Teil war die Inszenierung der Musik Daniel Aubers mehrfach ins Wort gefallen mit instrumentalen Arrangements von Revolutionsmelodien. So erklingen „Bella ciao“ und „Die Gedanken sind frei“. Einblendungen von Zeitleisten klären über Aufstände und Revolutionen auf.
Das alles belegt, freundlich gesagt, daß das Produktionsteam sich eine Überfülle an Gedanken gemacht hat, darunter einige interessante, reizvolle, bemerkenswerte. Aber es wird kein schlüssiges Ganzes daraus, weil sich die Produktion in ihrer Ideenfülle verzettelt. Unfreundlich könnte man sagen: Es wird einfach alles gezeigt, was dem Regisseur bei Lektüre des Librettos so durch den Kopf gerauscht ist. Ärgerlich ist, daß dabei das Stück regelrecht demoliert wird.

Schade ist es um die in den Hintergrund gedrängte Musik, die im Orchestergraben von Johannes Zahn am Pult zupackend und farbig präsentiert wird. Auch die Freude an den Gesangsleistungen der durchweg adäquaten Sängerbesetzung tritt vor dem wachsenden Ärger über das Ideenkauderwelsch auf der Bühne in den Hintergrund. Megan Marie Hart etwa bewältigt mit ihrem dramatischen Koloratursopran die gar nicht so geringen Anforderungen der Partie der Elvire mit Aplomb, Ricardo Garcia gefällt mit elegantem Tenor als Alphonse, auch wenn er mitunter gegenüber dem Orchester ins Hintertreffen gerät. Matthew Vickers verfügt für den Masaniello über ein durchaus passendes Timbre, und daß ihm beim heldenhaften Auftrumpfen in einer zentralen Arie unter Überdruck die Stimme mehrfach wegbricht, mag man auf Premierennervosität oder eine vorübergehende Indisposition schieben. Georg Festl gibt den Pietro angemessen kraftvoll, wenngleich sein kernig-rauer Baßbariton Geschmackssache ist. Der stark geforderte Chor zeigt sich von Alice Meregaglia gut präpariert.
Der Publikumsunmut am Ende erreicht zwar noch keine revolutionären Ausmaße, wächst aber beim Auftritt des Produktionsteams zu Orkanstärke heran.
Michael Demel, 30. Mai 2025
Die Stumme von Portici (La Muette de Portici)
Grand opéra in fünf Akten von Daniel Auber
Staatstheater Darmstadt
Premiere am 26. April 2025
Inszenierung: Paul-Georg Dittrich
Musikalische Leitung: Johannes Zahn
Staatsorchester Darmstadt
Weitere Termine: 9., 14., 27. Juni