Graz: „Corona-Meditation“

Uraufführung am 30.April 2020 im Internet

Opernkomponist Gerd Kühr in Quarantäne!

Die Styriarte ist wie derzeit alle Festival-Veranstalter in ganz Europa durch die Corona-Situation genötigt, Veranstaltungen abzusagen bzw. als Ersatz neue Formate zu erfinden. Und Styriarte-Intendant Mathis Huber ist seit bald 30 Jahren wahrhaft ein erfindungsreicher Prinzipal seines Festivals!

Heute konnte Mathis Huber in einer Internet-Pressekonferenz ein überaus spannendes Projekt mit dem weltweit renommierten Komponisten Gerd Kühr vorstellen. Zu diesem Projekt kam es so:

Gerd Kühr hielt sich zu Beginn der Corona-Krise in Deutschland auf, um die Premiere seiner Oper „Stallerhof“ im Theater Hof zu besuchen. Mit diesem Stück nach einem Text von Franz Xaver Kroetz hatte Gerd Kühr bei der Münchner Biennale 1988 einen durchschlagenden Erfolg. Die Premiere in Hof wurde Corona-bedingt abgesagt und Gerd Kühr musste, bevor er nach Österreich zurückreisen durfte, 14 Tage in Berlin in Quarantäne bleiben. Anstatt in dieser Quarantäne-Zeit an dem Auftragswerk für die Oper Leipzig Paradiese , die am 9. Juli 2021 ihre Uraufführung erleben wird, zu arbeiten, schrieb Kühr die Corona-Meditation „ein Stück für beliebig viele Klaviere und für Pianisten der verschiedensten künstlerischen Niveaus, aufzuführen in jenem Raum, der der Kunst im Moment gerade offen steht, im Internet.“

In einer überaus anregenden, etwa halbstündigen Pressepräsentation stellte Mathis Huber gemeinsam mit Gerd Kühr, der jungen lettischen Pianistin Olga Chepovetsky und mit dem für die technische Umsetzung des komplexen Unterfangens Verantwortlichen Matthias Wagner die Entstehung des Werkes, seinen strukturellen Aufbau und die geplante Umsetzung vor.

Es lohnt sich unbedingt, diese Präsentation anzuschauen – sie ist hier nach wie vor verfügbar. Geistvoll-unterhaltsame Details waren da zu hören – zur Etymologie des Wortes Quarantäne (die Präsentation fand gerade am vierzigsten Tage der österreichischen Corona-Beschränkungen statt), zu Gerd Kührs Liebe zu den Primzahlen und zum gewählten konsequent durchgehenden, sehr langsamen Tempo (eine Viertelnote = 37 – das kann ich auf meinem bescheidenen Metronom gar nicht einstellen, das geht nur bis 40!), über den Übergang zum Fieber bei 37 Grad und warum das Stück mit einem Pausentakt samt Fermate beginnt… und vieles Anregendes mehr, das Lust macht, diese Uraufführung zu erleben.

Die Pianistin Olga Chepovetsky wird in Graz mit dem Spiel beginnen – in der nächsten Phase wird der zweite Pianist Philipp Scheucher aus seinem Wohnzimmer in Hannover über Zoom dazukommen und im dritten Teil können dann über Zoom beliebig viele Pianisten – Profis und Amateure aus der ganzen Welt mitspielen. Einzige Voraussetzung für die Mitwirkung: rechtzeitige Anmeldung – Die Partitur ist schon jetzt hier abrufbar.

Ab 27.4. gibt es die genauen technischen Anweisungen und am 29.4. die einzige Probe aller Ausführenden. Wie viele Gäste werden mitwirken?? Huber sprach von mindestens 20 bis 100, Kühr wünscht sich eine Million – lassen wir uns überraschen, wie viele es wirklich sein werden!

Was sagten Styriarte und Gerd Kühr noch zu diesem Projekt:

Das Stück ist von Gerd Kühr schon mit allen zu erwartenden Unschärfen, den Verschiebungen in Tonhöhen, Klang und Tempi, konzipiert und will damit eine neu Art von „Hauskonzert“ hervorbringen, wozu sich der Komponist folgend äußert:

„Das Stück war plötzlich da und musste sein! Wir erleben eine Zeit der Besinnung, die Gelegenheit zur Meditation bietet. Der ruhige Grundpuls, nicht durch ein Metronom koordiniert, sorgt dafür, dass das Zusammenspiel der prinzipiell unendlich vielen Klaviere kaum präzise ausführbar wird. Diese Unschärfe, gepaart mit der langsamen Auffüllung des Tonraums, sorgt für einen Ausdehnungseffekt, analog der Ausdehnung des Kosmos. Das Stück ruht in sich und erweitert sich zugleich. Unschärfen in Timing, Klavierstimmung und Klangqualität sind explizit erwünscht. Das Werk wird dadurch ein präziser Kommentar zur gegenwärtig aufblühenden Streamingkultur, in der eben ein gewohnt perfektes Echtzeit-Zusammenspiel, wie wir es vom konventionellen physischen Konzert kennen, nicht möglich ist.“

Wie kommt man als Zuhörer und Zuseher zu den Tickets dieser Uraufführung:

Um die Live-Uraufführung am 30. April um 20.20 Uhr (MESZ) als Konsument mitzuerleben, können Musikfreunde sich ab Montag, 27. April um 15 Uhr, für 9 Euro (oder auch 99 bzw. 909 für den KünstlerInnen-Hilfsfonds der styriarte J) ein Ticket kaufen und erhalten dann per Mail einen Zugangslink zur Übertragung aus dem styriarte Kartenbüro.

Bestellung über www.styriarte.com/events/corona-meditation/

oder per Mail an tickets@styriarte.com

Und noch ein zusammenfassendes Zitat aus der Presseaussendung:

„Das Besondere und Hochaktuelle an dieser Unternehmung ist wohl, dass wir eben keinen vorproduzierten Content streamen, sondern tatsächlich ein hochambitioniertes Live-Konzert via Internet, an dem sich voraussichtlich KünstlerInnen aus vielen Ländern beteiligen. Die technischen Limitierungen (siehe Beschreibung) werden dank einer klugen Werkkonzeption sogar in künstlerische Tugenden umgewandelt. Und dann ist da noch dieses Stück mit seiner jungen Entstehungsgeschichte, das die aktuelle Lage der Welt und der Kunst auf mehreren Ebenen exakt auf den Punkt kommentiert.“

Es ist also zweifellos ein spannendes Projekt, das internationale Aufmerksamkeit verdient!

Hermann Becke, 24. April 2020

Alle Fotos: © Styriarte