Bielefeld: „Anastasia“, Stephen Flaherty (zweite Besprechung)

© Sarah Jonek

Der Saisonstart mit einem Musical hat am Theater Bielefeld eine lange Tradition. Dabei entstehen immer wieder starke Produktionen, die das Publikum von weither anlocken. Zur Eröffnung der aktuellen Spielzeit ist nun das Musical Anastasia zu sehen, das auf dem Disney-Film von 1997 beruht und 2017 in überarbeiteter Form Premiere hatte

Erfreulich ist, dass Autor Terence McNally die Geschichte des Animation-Films, welche die Ausgangsbasis des Musicals ist, stärker den historischen Fakten angepasst hat. Jedoch lebt das Stück immer noch von der Romanow- Nostalgie und stellt das Zarenreich als paradiesisches Märchenland dar. Zudem werden die historischen Hintergründe stark vereinfacht und das Musical betreibt eine Schwarz-Weiß-Malerei in gute Zaristen und böse Kommunisten.

Eine kluge Idee ist, dass die beiden Betrüger Wlad und Gleb im Mittelpunkt stehen, die der Zarenmutter eine falsche Anastasia unterjubeln wollen. Heikel wird es aber, als sich die vermeintliche Betrügerin als echte Anastasia entpuppt, was dem Ziel, sich an den historischen Fakten zu orientieren, widerspricht.

Die Dialoge werden nervig, wenn dort Werbespruch-Weisheiten aufgesagt werden: „Wir wissen nie, welcher Abschied der endgültige sein wird!“, „Was wir haben, kann uns niemand nehmen“ oder: „Sie war nur ein Traum – ein schöner Traum!“.

Viele der genannten Kritikpunkte werden in der Aufführung aber durch die starke Musik von Stephen Flaherty fortgeweht. Seine Songs sind einprägsam und gefühlvoll, neigen aber auch zu übertriebenem Pathos und Kitsch, besonders wenn noch „Na-na-na“-Chöre aus dem Off erklingen.

© Sarah Jonek

Neben poppigen Liedern darf natürlich auch Russland-Folklore nicht fehlen. Zudem werden sogar einige Takte aus Tschaikowskys „Schwanensee“ gelungen in das Musical eingebaut. Dirigent William Ward Murta hat das Original noch etwas opulenter orchestriert, sodass die Bielefelder Philharmoniker unter seiner Leitung groß aufspielen können.

Janina Niehus kennt man bisher hauptsächlich als Musicaldarstellerin und ist in den letzten Jahren regelmäßig bei den Festspielen in Tecklenburg aufgetreten. Dort hat sie bereits mehrfach das Kinderstück inszeniert. Anastasia ist ihre erste Regie eines großen Musicals für die große Bühne. Die Geschichte ist gut erzählt, die Figuren sind klar gezeichnet und die Dialoge haben das richtige Tempo. Zudem überzeugt Niehus mit einer guten Personenführung.

Insgesamt gelingt der Beweis, dass eine sehenswerte Produktion auch ohne ein aufwendiges Bühnenbild auskommen kann. Ausstatter Sebastian Ellrich benötigt nur ein paar herabhängende Tücher zur Strukturierung des Raumes, Stadtsilhouetten von Moskau und Paris aus Neonröhren, einen über der Bühne hängendem Steg und eine verschiebbare Treppenkonstruktion. Zentrales optische Element dieser Aufführung sind Nebel und Kunstschnee, die von einer Windmaschine immer wieder dekorativ über die leere Bühne gewirbelt werden.

Sängerisch ist diese Produktion eine Leistungsschau der Essener Folkwang-Universität der Künste, denn gleich drei Absolventen präsentieren sich in den Hauptrollen. Lara Hofmann ist eine jugendlich frische Anja, die auch immer wieder die Zerbrechlichkeit ihrer Figur durchscheinen lässt. – Als kommunistischer Politkommissar Dimitri glänzt Andreas Bongard mit seiner markant-klangvollen Stimme, die an den jungen Uwe Kröger erinnert. Als Hochstapler Gleb, der mit Anja auch ein gefühlvolles Duett singen darf, gefällt Nikolaj Alexander Brucker mit geschmeidig-elegantem Tenor.

© Sarah Jonek

Seinen Freund Wlad gestaltet Carlos Horacio Rivas als kauzigen Typen. Betty Vermeulen ist eine würdevolle Zarenmutter.

Insgesamt gelingt dem Bielefelder Theater eine überzeugende Aufführung dieses neuen Musicals. Die nächsten Musical-Premieren an NRW-Opernhäusern und Theatern lassen nicht lange auf sich warten: In Bonn flogt Tootsie (26. Oktober), in Gelsenkirchen Das Licht auf der Piazza (2. November) und in Dortmund Grease (8.November).

Rudolf Hermes 10. Oktober 2025


Anastasia
Buch von Terence McNally
Musik von Stephen Flaherty
Gesangstexte von Lynn Ahrens

Theater Bielefeld

Premiere: 20. September 2025
Besuchte Vorstellung: 5. Oktober 2025

Inszenierung: Janina Niehus
Musikalische Leitung: William Ward Murta
Bielefelder Philharmoniker

Erste Opernfreund-Besprechung