Manch große Ereignisse sind einem oder mehreren Zufällen geschuldet. So auch die aktuelle Realisierung von Benjamin Brittens Erfolgsoper Peter Grimes auf der Bühne des Theaters Bielefeld. Dessen damalige Operndirektorin und jetzige Intendantin Nadja Loschky traf in der Frankfurter Opernkantine, als sie Giulio Cesare inszenierte, auf den Regisseur von Tannhäuser, Matthew Wild. Sie fragte ihn, ob er nicht in Bielefeld Peter Grimes inszenieren wolle. Und wie er das wollte; er hatte bisher nur kein Theater für sein Lieblingsprojekt gefunden. Und mit Robin Davis hat das Theater neuerdings einen englischen Chefdirigenten, der auch zum ersten Mal diese Oper dirigieren wird, aber dank seiner britischen Herkunft für Authentizität sorgt. Zudem ist es eines seiner Lieblingswerke, und er ist, wie der Komponist, sehr dem Meer zugetan. Beste Voraussetzungen also für einen großen Opernabend.
Britten komponiert Peter Grimes, nachdem er die Ballade „The Borough“ von George Crabbe, die dieser 1810 schrieb, gelesen hat, inmitten des Zweiten Weltkrieges. Das Dorf Borough in dem Gedicht ist fiktiv, aber es ähnelt sehr stark Aldeburgh, wo Britten sein Zuhause findet. Britten beauftragt Montagu Slater, das Libretto zu schreiben. Für die Hauptrolle sieht er seinen Lebenspartner Peter Pears vor. Die Oper wird mit großem Erfolg am 7. Juni 1945 in London uraufgeführt und gilt als eines der größten Musiktheaterwerke des 20. Jahrhunderts. Der Fischer Peter Grimes ist ein schroffer, eigensinniger, die Gesellschaft meidender Typ, der perfekte Außenseiter. Crabbe beschreibt ihn so: „Kaltes nervöses Zittern erschütterte seinen kräftigen Körper/Und eine seltsame Krankheit – er konnte ihren Namen nicht benennen/Wild waren seine Träume, und oft erwachte er voller Angst/Geweckt von seinen Schreckensvisionen in der Nacht/Schreckensvisionen, die selbst die strengsten Gemüter in Erstaunen versetzen würden/Schreckensvisionen, auf die selbst Dämonen stolz sein könnten/Und obwohl er sich verlassen fühlte, traurig im Herzen/weil er glaubte, von der ganzen Menschheit getrennt zu leben/doch wenn sich ihm ein Mensch näherte, schreckte er vor Angst zurück.“ (Übersetzt mit DeepL.com (kostenlose Version)). Seine Vision ist, der erfolgreichste Fischer des Dorfes zu sein, und hofft, dann die verwitwete Lehrerin Ellen Orford heiraten zu können, die einzige Person, mit der er sich privat austauscht. Und er arbeitet schwer, und zwar mit Hilfe jeweils eines Lehrjungen, um dieses Ziel zu erreichen. Sein Problem zu Beginn ist, dass sein Lehrling William Spode tot ist. Das Dorf ist sich sicher, dass Grimes Schuld am seinem Tod ist (das Gedicht spricht von dreijähriger brutaler Behandlung durch Grimes), der Richter entscheidet aber auf Unfall und spricht Grimes frei, jedoch mit der Auflage, keinen Lehrling mehr zu beschäftigen. Seitdem steht das Dorf gespalten zu ihm. Doch Grimes nimmt erneut einen Lehrling auf, und als dessen Pullover am Strand angespült gefunden wird, wendet sich das Dorf gegen Grimes und Ellen Orford und will an Grimes Lynchjustiz ausüben. Der Kapitän Balstrode, der bis dahin zu Grimes gehalten hat, empfiehlt ihm, in seinem Boot aufs Meer zu fahren und dort zu bleiben.

Peter Grimes ist ein sehr vielschichtiges Werk. Benjamin Britten, der dem Meer stets sehr verbunden war, ging es in seiner 1945 uraufgeführten Oper unter anderem darum, dem „ewigen Kampf der Männer und Frauen, die ihr Leben, ihren Lebensunterhalt dem Meer abtrotzten, Ausdruck zu verleihen – trotz aller Problematik, ein derart universelles Thema dramatisch darzustellen.“ Das Meer als Lebensgrundlage der Dorfbewohner wie die Gefährdung durch die Natur, hier der Sturm, finden starken musikalischen Ausdruck. Aber auch die gesellschaftlichen Aspekte beschäftigen Britten, denn „je bösartiger die Gesellschaft, desto bösartiger der Einzelne“. Und als homosexueller, pazifistischer, auf dem Land lebender Künstler hat Britten seine eigene Erfahrung mit Außenseitertum. Regisseur Matthew Wild konzentriert sich auf diese Aspekte und knüpft an die Schnittstelle zwischen packendem Kriminalfall, Lynchjustiz und Brittens eigener Biografie an. Er zeichnet das Bild einer Gesellschaft, der die echte Wahrheit egal ist. Jeder hat seine eigene Meinung und nährt den Tratsch, der der Kitt der Dorfgemeinschaft ist. Homosexualität wird angedeutet, indem zwei Halbstarke auf Grimes’ Nachen bedeckende Plane „Homo“ und „Paedo“ sprühen. Die Figuren einschließlich des Chores hat Wild sehr genau gezeichnet und er kann seine Vorstellungen dank der Spielfreude des Ensembles gut realisieren. So kommt es zu zahlreichen spannenden Szenen, die sich insgesamt zu einem packenden, eindrucksvollen Opernabend zusammenfügen. Beispielhaft sei das Quartett der vier Frauen genannt, bei dem die beiden Nichten ihre Sünden in dem Wassergraben abwaschen, oder der Einsatz von zwei Schauspielern, die die Lehrjungen William und John darstellen (Britten hat nur einen vorgesehen, der andere ist ja gestorben) und Grimes in seinen Soloszenen begleiten. Und Wild lässt Britten selbst auf der Bühne erscheinen, nämlich in Gestalt des Autors Crabbe, der als stiller Beobachter das Geschehen dokumentiert, sich am Ende aber mit Balstrode anfreundet; Wilds Umsetzung trägt somit auch biographische Elemente. Nichts in seiner Inszenierung wirkt aufgesetzt oder rätselhaft; stringent erzählt Wild die Geschichte. Dem Publikum wird dabei keine klare Lösung des Kriminalfalles William Spode geboten. Es wird aufgefordert, sich selbst ein Urteil über Peter Grimes zu bilden.
Entsprechend bietet die Bühne von Conor Murphy keinen dezidiert realistischen Anblick eines Fischerdorfes. Eine dunkelgraue Rückwand und eine ebensolche, schräg hängende und höhenverstellbare Decke begrenzen die Spielfläche. Das wesentlich Maritime ist ein Wassertrog, der den einheitlich dunklen Bühnenraum teilt und Platz für einen Nachen bietet. Das Beengende der Dorfgemeinschaft ist unmittelbar zu spüren, gleichzeitig steht der trennende Graben für die Zerrissenheit des Dorfes und bietet Möglichkeiten für die spielerische Gestaltung. Leider ist der Trog von der vorderen Parketthälfte aus nicht einsehbar. Im ersten Akt deuten ein paar Requisiten – graue Tische und Körbe, Kühlboxen aus Styropor – eine Fischverarbeitung an, später einfache graue Tische und Bänke das Wirtshaus. Die Kostüme, ebenfalls von Conor Murphy, reichen stilistisch von der Entstehungszeit der Oper bis zur Gegenwart. Während der Zwischenspiele, den berühmten Four Sea Interludes, zeigen Videos von Roman Hagenbrock auf dem gesamten Zwischenvorhang Szenen von Grimes und William im Nachen auf dem Meer. Dabei erweist sich Grimes zunächst als fürsorglicher Fischer. Erst später wird er gewalttätig, wobei es möglich erscheint, dass diese Bilder seiner Fantasie entspringen, denn man sieht ihn anschließend wieder fürsorglich dem Jungen ein Brot reichen. Grimes selbst äußert in der Oper durchaus Anzeichen von Unzufriedenheit, Schuldgefühlen und beginnendem Wahnsinn, der als Verdrängung gewertet werden kann. Das Ende wird von Wild auf überraschende Weise gezeigt: Grimes und die Jungs, dann auch Balstrode füllen den Nachen mit Wasser, und Balstrode und Crabbe/Britten ertränken Grimes darin, während Ellen zuschauen muss. Die Wände werden hochgefahren, der Chor steht hinten und singt teilnahmslos seine letzten Zeilen.

Die Oper ist besetzungsmäßig sehr aufwändig. Am Theater Bielefeld ist ein starkes Ensemble herangewachsen, weshalb nur zwei Rollen mit Gästen besetzt werden müssen. Dalia Schaechter singt eine dominante Auntie (die Wirtin) und füllt diese Rolle mit ihrem runden, ausdruckvollem Mezzo aus. Bryan Boyce verkörpert mit autoritativem Bass den Richter und Bürgermeister Swallow. Für alle anderen Partien, von denen keine unbedeutend ist, hat Bielefeld eigenes Personal. Vorneweg Nenad Čiča in der Hauptrolle. Sein klarer, hell timbrierter, schlanker und zugleich durchsetzungsfähiger Tenor, mit dem er Belcanto ebenso singen kann wie diese Charakterrolle, ist ideal für Grimes. Er verleiht ihr Authentizität, einen starken, individuellen Charakter. Dank seines Einfühlungsvermögens in den ruhigen und lyrischen Passagen können die Zuschauer Sympathie für den Außenseiter entwickeln. Er verfügt gleichzeitig über genügend Stamina für kontrolliert vorgetragene voluminöse Wut- und Verzweiflungsausbrüche. Nicht minder überzeugt Dušica Bijelić als Ellen Orford. Mit intensiver,farbenreicher und warmer Stimme charakterisiert sie die zwischen Hoffnung, Zögern und Verantwortung schwankende Lehrerin. Sie liefert eine überzeugende Interpretation von einer der interessantesten Sopranrollen des Opernrepertoires ab. Das Beinahe-Liebesduett „My/Your voice out of the pain/Is like a hand/That you/I can feel and know:/Here is a friend” am Ende des Prologs wird zur romantischen Opernszene. Der eigensinnige Balstrode wird von Evgueniy Alexiev mit markantem Bass verkörpert. Mayan Goldenfeld und Cornelie Isenbürger sind die zwei verführerischen Nichten; Lorin Wey als Bob Boles besitzt zwar einen schlanken, präsenten Tenor, kann mit seinen teils plakativen biblischen Weisheiten aber nicht beim Volk punkten. Dafür hat er als Einziger die Idee, Gummistiefel zu tragen, um trockenen Fußes durch den Wassergraben zu kommen., Mon Soo Park ist der dienstbereite Hobson. Tod Boyce versorgt als Apotheker, eher Dealer, Ned Keene das Dorf mit allen möglichen Mittelchen einschließlich eines weißen Pulvers, und Witwe Sedley ist von ihm abhängig, um als selbsternannte Kriminologin fit zu bleiben für den Tratsch, den Marta Wryk volltönend unter das Volk streut. Andrei Skliarenko ist Pfarrer Adams, der die Gerüchteküche nicht eindämmen kann, dafür fromme Riten feiert. Zwei Schauspieler verkörpern die stummen Rollen der Lehrjungen: Sharjil Khawaja als John und Roland Kansteiner als William. Nikos Fragkou choreografiert nicht nur die zahlreichen Chorszenen, sondern spielt selbst die stumme Rolle Crabbe alias Britten. Der Chor spielt eine Hauptrolle in dieser Oper. Den Chor und den Extrachor des Theaters Bielefeld hat Hagen Enke musikalischvorbereitet, sodass sie mit viel Engagement und Ausdruck die gruppendynamischen Emotionen hochkochen lassen können. Zwar ist die Tongebung anfangs nicht sicher, doch dann ist ein klangmächtiges Instrument zu erleben. Auch die Bielefelder Philharmoniker müssen anfangs noch warm werden mit dem Britten-typischen Sound, die Holzbläser klingen scharf und das Blech grobkörnig, gewinnen im Laufe des Abends zunehmend an ausbalancierter Klangkultur. Robin Davis lässt filigran musizieren, übertönt nicht die Solisten, lässt andererseits an Stellen, wo es nötig ist, das Orchester ordentlich auffahren, ohne knallig zu sein. Chöre und Orchester werden gewiss in den kommenden Aufführungen an Sicherheit von Anfang an zeigen. Insgesamt eine absolut sehenswerte Inszenierung dieses Opernklassikers, getragen von einem überzeugendem engagierten Ensemble mit herausragenden solistischen Leistungen.
Bernhard Stoelzel, 12. Oktober 2025
Peter Grimes
Benjamin Britten
Theater Bielefeld
Besuchte Premiere: 11. Oktober 2025
Inszenierung: Matthew Wild
Musikalische Leitung: Robin Davis
Bielefelder Philharmoniker