Zum Saisonbeginn bringen gleich drei nordrhein-westfälische Theater Guiseppe Verdis Drama La Traviata auf die Bühne, praktischerweise regional gut aufgeteilt nach Lippe (Detmold, s. https://deropernfreund.de/landestheater-detmold/detmold-la-traviata-giuseppe-verdi, wo auch eine Einführung zum Werk vorhanden ist), Westfalen (Hagen) und Rheinland (Krefeld). Tun sie das, um in diesen Zeiten zunehmender kapitalbildender Verwertung auch persönlichster Daten darauf hinzuweisen, dass der wiederholte Verkauf der intimsten Bereiche des menschlichen Körpers schon längst zwischen Tabu und Praxis behandelt wird? Oder will man in diesen krisengeschüttelten Zeiten dem Publikum lieber individuelle Schicksale, begleitet von zarten und melodiösen Klängen, zur Ablenkung bieten? Letzteres ist in der Neuinszenierung des Theaters Hagen jedenfalls nicht vorgesehen. Denn gleich in den ersten Takten des Vorspiels macht der neue Generalmusikdirektor Sebastian Lang-Lessing klar, dass seine Lesart der Partitur eine andere ist. Analytisch-scharf klingt es dem aus dem Orchestergraben, wo das Philharmonisches Orchester Hagen gewohnt sensibel und klangschön, dann aber auch dramatisch zupackend den psychologisch aufhellenden Anweisungen des Dirigenten folgt. Viele Details insbesondere der Holzbläser werden hörbar, durch starke Ritardandi geschickt Spannungen erzeugt. Der Co-Dramaturg Jakob Robert Schepers erwähnt die Nähe zum Lohengrin, und tatsächlich spielt das Orchester eine eigene Hauptrolle. Passend zu diesem Zugang leuchtet Serenad Uyar die Titelpartie Violetta Valéry aus. Leidenschaftlich, mit kraftvoller, runder Stimme, sicherer Stimmführung, leuchtenden Höhen und zarten Piani porträtiert sie die vom Wege abgekommene, ihre Identität suchende junge Frau, die, zur Liebe scheinbar unfähig ist, Spaß und Luxus auf wilden Partys sucht. Ihre großen Arien „Èstrano!… è strano!“ und „Cessarono gli spasmi del dolore“ singt sie vor geschlossenem Vorhang auf einem den Orchestergraben führenden Steg, was eine besondere Nähe und Unmittelbarkeit zum Publikum mit sich bringt. Ihr jugendlicher Liebhaber Alfredo Germont ist Giuseppe Infantino, ein Tenore spinto mit Eleganz, Beweglichkeit und nötigem Pathos, sowohl stimmlich wie darstellerisch, aber etwas Schärfe in der Höhe.

Sein Vater Giorgio Germont wird von Insu Hwang dargestellt. Sein edler, runder Bariton überzeugt mit fülligem Belcanto statt mit purer Stimmgewalt, überrascht aber manchmal mit etwas rauem Stimmansatz. Die Inszenierung sieht ihn als seine Würde bewahrenden, distanzierten Herrn vor, der nur selten körperliche Nähe sucht, und wenn ihm die Hand zu einer seinem Sohn geltenden Ohrfeige ausrutscht, trifft ihn umgehend die Reue. Mit einem langen grauen Gehrock bleibt er stets gleich gekleidet, ebenso Alfredo, der einen dunkelgrünen Samtanzug trägt und mit einer schwarzen Hornbrille recht nerdig aussieht (Kostüme: Jeannine Cleemen). Gleichbleibende Kostümierung deutet auf ausbleibende Charakterentwicklung hin. Der Regie führende neue Hausherr Søren Schumacher stellt dem Vater seine Tochter Amelia zur Seite. Mit ihr sucht er Violetta auf und löst moralischen Druck auf sie aus, indem er ihr vorwirft, sein Familienglück zu zerstören, da er unter diesen Bedingungen seine Tochter nicht anständig verheiraten könne. Im unschuldsweißen Kleid verfolgt sie die Auseinandersetzung, rückt näher an Violetta heran und zeigt sich solidarisch mit ihrem Bruder.

Am Ende schützt sie, nun im violetten Kleid, die sterbende Violetta vor dem Karnevalsmob. Eine Entwicklung, die ihr Vater so nicht ahnen konnte… Auf jeden Fall ist diese stumme Rolle, verkörpert von Elizabeth Pilon, eine sinnvolle Bereicherung. Violett ist bestimmt nicht ganz zufällig auch die öffentliche Kleiderfarbe der Valéry. Im zweiten Akt, der Landidylle, trägt sie ein gelbes Kleid und offene, schwarze Haare statt einer weißblonden Perücke. Auch ihr ist eine zweite Person zugedacht – ein kleines Mädchen, das (Goethe hätte übrigens „die“ geschrieben) Violetta zu Beginn auf ein sie zur Schau stellendes Podest führt und ganz am Ende sie über den Steg aus dem Stück heraus in den Zuschauersaal führt in eine offene Zukunft. Für Hannah Schnitker ist die Rolle des Mädchens hoffentlich Spiel, keine Kinderarbeit zu so später Stunde. Seine (Goethe hätte „ihre“ geschrieben) violett-weißblonde Kostümierung deutet aber an, dass Violetta das Schicksal einer Sexarbeiterin vorherbestimmt ist. Der Regisseur möchte sich am Titel „La Traviata“ – die vom Wege abgekommene – abarbeiten. Ob Violetta nun von Alfredo von einem vorherbestimmten Weg abgeleitet wird oder am Ende ihr Weg aus dem sexpositivem Partyleben herausführt und sie ihre wahre Identität findet, möglicherweise in einer von Giorgio Germont erwünschten bürgerlichen Ehe, soll am Ende offen bleiben. Dass sie sich die blonde Perücke abnimmt und ihr schwarzes Haar wallen lässt, deutet auf Letzteres hin. Oder auf eine selbstbestimmte Mischung aus beidem? Zu den weiteren Auffälligkeiten dieser Inszenierung gehören die Änderung von Annina zu Fioretta, also Violettas Freundin Flora Bervoix (schön gesungen von Hyejun Melania Kwon) im Schlussbild, sowie das kurzzeitige Einfrieren der Handlung im Partybild des dritten Aktes, wenn Violetta „Che fia? Morir mi sento!“ singt. Auch liest Giorgio Germont selbst den Brief, den er zum Ende hin an Violetta verfasst hat – da es eine Sprechszene ist, funktioniert dies problemlos.

In La Traviata dominieren die Gefühle und inneren Motivationen, weshalb Äußerlichkeiten nebensächlich sind. Entsprechend ist das Bühnenbild von Norbert Bellen aufs Nötigste beschränkt. In den Partylocations deuten ein paar geschmacklose Palmen und Luftballons die Atmosphäre an. Zwei bunte Neonröhrenrahmen begrenzen anfangs wage die Spielfläche. Im Hintergrund sitzt der Chor mitsamt Extrachor auf den Stuhlreihen, auf denen in Der Goldene Drache noch das Publikum saß, und wartet auf seinen Einsatz, den er souverän und mit großer Spielfreude ausführt (Chorleitung: Julian Wolf). Übermannsgroße bunte Blumen und zwei Schaukeln vor einem schlichten Prospekt stellen den Landsitz im zweiten Akt dar. Das Schlussbild zeigt drei Bänke, auf denen die Hauptdarsteller zunächst verteilt sitzen oder liegen, und eine Straßenlaterne. Auf einen eisigblauen Boden schneit es. Das alles reicht völlig, um darin die Geschichte glaubhaft zu erzählen. Dezente Live-Videos und stimmungsvolle Ausleuchtung von Hans-Joachim Köster tragen zur szenischen Abrundung bei. Insgesamt ist es eine gefällige Inszenierung mit interessanten Aspekten, aber ohne allzu hohe Verständnisansprüche, aus den Händen eines Theaterpraktikers. Musikalisch ist sie erstklassig, und alle Ausführenden werden vom dankbaren Premierenpublikum mit großem Jubel bedacht, besonders aber Serenad Uyar und Sebastian Lang-Lessing, aber auch die kleineren Rollen können in dieser gelungenen Produktion der neuen Theaterleitung überzeugen.
Bernhard Stoelzel 5. Oktober 2025
La Traviata
Giuseppe Verdi
Theater Hagen
besuchten Premiere: 4. Oktober 2025
Inszenierung: Søren Schumacher
Musikalische Leitung: Sebastian Lang-Lessing
Philharmonisches Orchester Hagen