Mönchengladbach: „Living in America“

Mitreißendes Amerika-Ballett begeistert das Publikum

Selbst nach gut einem Jahr im leider nur zu 2/3 gefüllten Opernhaus von Rheydt war gestern der Jubel des enthusiasmisierten Publikums immer noch gewaltig. Nun war allerdings auch die grandiose Final-Applaus-Choreografie von gut sieben Minuten nicht dazu angetan, nach dem erstem Fallen des Schluss-Vorhangs gleich das Theater zu verlassen, denn stürmisch setzte sich der Beifall über die nächsten 20 Minuten – durchsetzt mit vielen Bravo-Rufen – ungeschmälert fort. Es spiegelte sich in den fröhlichen Gesichtern dieser 22 jungen, tollen Tänzer auch die Begeisterung und Freude sowohl am Tanz, als auch über die wunderbare Reaktion des Publikums. Damit nehme ich das erste Fazit gleich vorweg:

Ein hinreißender Abend in mehr als 20 Bildern, der vorbeifliegt und alle mitreißt – mit dreimal ca. 35 Minuten (Zwei Pausen) eigentlich noch viel zu kurz anfühlt. Man möchte am Ende noch länger im Theater verweilen…

Ballettdirektor Robert North hat hier ein Meisterstück abgeliefert, welches aber auch das Zwei-Städte-Institut an seine Grenzen bringt. Sagenhafte 120 Kostümwechsel in über 20 Bildern – von Andrew Storer (Idee), Udo Hesse (Realisation) und Sheri Cook (Choreografie-Assistenz) brillant realisiert – ist für ein Ballett an einem Vier-Sparten-Haus schon purer Gigantismus. Ich muß zugeben, daß ich so etwas in über 40 Jahren an diesem "kleinen" Haus noch nie erlebt habe.Kleines Ballett ganz groß.

Was für eine Arbeit! Was für ein Aufwand! Was für ein Einsatz aller Tänzer!

Das ist wirklich eine sagenhafte Leistung. Besonders, weil es auch so liebevoll choreografiert wurde und mit viel Witz und Ironie daher kommt. Daher ist dieser Abend auch unbedingt allen Tanztheater-begeisterten Familien zu empfehlen. Langeweile wird bei den Kindern nicht aufkommen und das Schönste: Wir erleben alle Tanzformen vom Klassischen über die Moderne bis hin zu erträglichem Hipp Hopp, Break Dance und Disco. Sogar ein choreografierter Boxkampf zwischen Mann und Frau im Madison-Square-Garden-Ambiente ist vorhanden; versteht sich, daß die Frau gewinnt 😉 !

Es ist insgesamt betrachtet jene sprichwörtliche Leichtigkeit des Sein, mit der North den Abend choreografiert, in der aber auch durchaus stets eine gewisse Tiefe steckt. Sein sich über annähernd 200 Jahre erstreckendes dreiteiliges Kaleidoskop offeriert im ersten Akt die Besiedlung des Westens, den Eisenbahnbau und die sich daraus ergebende Goldgräber-Kultur. Der zweite Akt bringt den technischen Fortschritt der Großstadt mit Showbiz und mit allen Problemen der Las-Vegas-Zeit, wie Mafia, Prohibition und Glücksspiel. Der letzte Akt zeigt unsere heutige Welt, eben die moderne Gesellschaft. Jene alte Gier nach Gold ist nun in anderen Formen und Welten vorhanden; Geld, Aktien, Medien, Konzerne. Es ist ein fulminanter großer Bogen der Geschichte Amerikas, die aber immer mit einem ironischen Augenzwinkern und nie allzu platt dargestellt wird.

Den multiplen, ständig wechselnden Schauplätzen steht natürlich auch eine unfassbare Menge von prächtigen Kostümen gegenüber. Ausstatter Udo Hesses Couture-Variationen sind einmalig schön und mit großer Liebe zum Detail entworfen – man müsste das Ballett eigentlich sofort noch einmal sehen, um alles explizit genug würdigen zu können. Es wird dem Auge viel geboten und gerade in den großen Ensembles, wenn diese 22 Tanzgenies geradezu über die Bühne wirbeln erscheint die Zeit für den Zuschauer oft viel zu kurz – zu schnell fliegen die Tanz-Nummer vorbei – und man möchte spontan lauthals "da capo" rufen.

Aus der Unmenge toller Darbietungen dieser Wahnsinnstruppe fällt es schwer einzelne hervor zu heben, dennoch hat mich der Pas de Deux des Siedler-Ehepaares (siehe Bilde oben) geradezu atemlos gemacht. Alessando Borghesani und Teresa Levrini boten hier Hebefiguren und Sprünge von einer Leichtigkeit, die einem fast wie ein nahtlose Übergang ins Schwerelose erschienen. Teresa Levrini, die man unbedingt im Auge behalten muß, ist für mich die Inkarnation einer schwebenden Feder, und wenn später im zweiten Teil Alessandro sein ergreifendes Obdachlosen-Solo tanzt, dann erinnert mich das unschwer an Baryshnikov. Das sind Qualitäten, die man sonst noch höchstens im Wiener Staatsballett findet. Besonders im Gedächtnis bleibt natürlich die Basketball-Truppe, die zu Techno-Rhythmen das unsichtbare Ballvergnügen Realität werden lässt und das Publikum zu berechtigtem Sonderapplaus nötigte.

Die musikalische Auswahl ist letztlich das I-Tüpfelchen für diesen gelungenen Tanzabend. Daß man mit Copland natürlich DEN amerikanischen Komponisten überhaupt auswählen musste, der leider bei uns in Konzerten immer noch ein Stiefleben führt, war klar – aber auch die weiteren Stücke von u.a. Gershwin, John Lee Hooker, Peter Gabriel, Drifters und natürlich der Legende James Brown untermalten den Tanzabend superb, trefflich und nachhaltig. Hits wie Living in America oder On Broadway bleiben auf dem Heimweg als Ohrwurm haften und das ist schön. So geht man beschwingt nach Hause.

Fazit: Tanz macht Spaß. Ein kurzweiliger Strauß bunter und auch kritischer Amerika-Geschichte, wie man ihn sich schöner kaum vorstellen kann. Kein Depri-Blick auf die Neue Welt, sondern immer noch alles mit Optimismus und Respekt.

Für ballettbegeisterte Kinder ab sieben Jahren unbedngt geeignet und fürs Familientanz-Theater der Must-Go-To-Abend überhaupt. Buchen Sie sich ein, denn es lohnt sich unbedingt. Wir vergeben unseren raren OPERNFREUD STERN für solch einen beispielhaft schönen und überzeugenden Ballettabend

Peter Bilsing, 2.2.2020

Tolle Bilder von (c) Matthias Stutte