Es gab Momente (zahlreiche), da war man gestern Abend bis ins Innerste erschüttert vom gewaltig einfahrenden Chorklang; ja man fühlte sich gleich dem vom Saulus zu Paulus gewandelten Apostel auf seinem Weg nach Damaskus von Erweckungsfantasien und -gefühlen heimgesucht. Diese Wirkung vermochte die mit hinreißender Überzeugungskraft singende und gestaltende Zürcher Sing-Akademie zu evozieren, deren Leiter, Florian Helgath, nun zum ersten Mal auch als Dirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich am Pult stand.
Florian Helgath gelang es vorzüglich, das meisterhafte Oratorium Mendelssohns mit einem ruhig voranschreitenden, inneren Puls zu versehen, um dann an den dramatischen Stellen so richtig vehement zuzuschlagen. So führte die Aufführung bei mir zur eingangs beschriebener Wirkung. Der Chor begleitete uns von den Anrufungen und Lobpreisungen des Eröffnungschors über die wutentbrannten Steinigungsrufe, die erhebende Erleuchtungsszene mit den Frauenstimmen als Jesus von Nazareth, zum eindringlich intonierten Choral Wachet auf! ruft uns die Stimme der Wächter und dem den ersten Teil beschließenden Chor O welch eine Tiefe des Reichtums.
Im zweiten Teil führte uns die Musik Mendelssohns zu den Heiden in Lystra, der Gemeinde in Ephesus und mit dem eindringlichen Schlusschor Nicht aber ihm allein, sondern allen, die seine Erscheinung lieben vollbrachte die Zürcher Sing-Akademie eine unter die Haut gehende Leistung, der man mit Worten kaum gerecht werden kann. Die Chorsänger sprachen mit ihrer Reinheit der Intonation, ihrer engagierten, dynamisch differenzierten und dramaturgisch einleuchtend gestalteten vokalen Pracht direkt in die Herzen der Zuhörer.
Unterstützt wurden die Chorsänger vom packend gestaltenden Tonhalle-Orchester Zürich, welches unter der unaufdringlichen, klug disponierenden und auf Balance zwischen Stimmen des Chors, der Solisten und des Orchesterklangs sorgsam achtenden Leitung von Florian Helgath einen plastisch erzählenden Klangteppich auszubreiten wusste. Ein im besten Sinne „beredtes“ Musizieren war da zu erleben. Da ertönten strahlende, ja triumphale Fanfaren der Blechbläser, weich umhüllender Streicherklang, fein ziselierte Passagen der Holzbläser und monumentale Einsätze der Orgel.
Und selbstverständlich hatten die vier exzellenten Solisten Christina Landshamer, Anke Vondung, Werner Güra und Michael Volle enormen Anteil am durchschlagenden Erfolg der Aufführung.
Christina Landshamers leicht und sicher ansprechender und über sehr schönes Leuchten gebietender Sopran berührte in der Arie Jerusalem! Jerusalem!, im Arioso Lasst uns singen von der Gnade des Herrn ewiglich! sowie in den wunderbar gestalteten Rezitativen als Erzählerin. Der Tenor Werner Güra glänzte in den verschiedenen Rollen als Stephanus, Ananias und Barnabas, sowie ebenfalls als Erzähler mit seinem herrlich einnehmenden, lichten Tenor. Einer der vielen Höhepunkte der Aufführung war bestimmt die Kavatine Sei getreu bis in den Tod, welche Werner Güra mit seiner einfühlsam intonierenden Tenorstimme und der herausragende Solo-Cellist des Tonhalle-Orchesters, Paul Handschke, mit viel Wärme und Eindringlichkeit zu gestalten wussten.
Auf das Eingreifen des Paulus in den musikalischen Ablauf muss man sich bei Mendelssohn etwas gedulden, doch sobald Michael Volle mit seinem prachtvollen Bariton seine Stimme erhob, war man hin und weg von der raumgreifenden Wucht, der Wärme, der Fülle und der unschlagbaren Kraft der Gestaltung, des Erfüllens des Textes mit Ausdruck und musikalischer Kraft, gepaart mit exemplarischer Diktion. Michael Volle vermochte die gesamte Bandbreite der Dynamik mit einer berückenden Rundung der Stimme zu durchschreiten, stets unforciert und deutlich phrasierend, das war unfassbar packend und bewegend gestaltet, in Rezitativen, Arien, Duetten und Zwiesprachen (Ich danke dir, Herr, mein Gott) mit dem Chor. Wenn man Mendelssohn einen Vorwurf machen könnte, dann wäre es dieser: Warum hat er der Altpartie nicht mehr Raum gegeben? Denn gerade, wenn man eine Sängerin vom Format einer Anke Vondung zur Verfügung hat, die in ihrem Arioso Denn der Herr vergisst der Seinen nicht ihre warme, so herrlich erfüllte Stimme vorzüglich in den Orchesterklang einzubetten wusste, hätte man ach so gern noch mehr von ihr gehört.

Im Schlusschor Lobe den Herrn, meine Seele! konnte man sich noch einmal am homogenen Mysterium des Klangs der Zürcher Sing-Akademie erfreuen und das Ohr an der ergreifenden Präzisionskunst der Schlussfuge laben lassen.
Heute Abend ist dieser PAULUS nochmals in der Tonhalle Zürich zu erleben. Es gibt noch Karten – hingehen!
Kaspar Sannemann 18. Dezember 2025
Saulus
Felix Mendelssohn Bartholdy
Zürich, Tonhalle
17. Dezember 2025
Leitung: Florian Helgath
Zürcher Sing-Akademie
Tonhalle-Orchesters Zürich