Jonas und die kleinen grünen Männchen
Im Jahr 1722 veröffentlichte Francois Pétis Delacroix unter dem Titel „Les Mille et Un Jours“, eine Sammlung orientalischer Geschichten, deren Ursprung bis in das 12. Jahrhundert und auf den Poeten Nezami von Ganja zurückverfolgbar ist. Der venezianische Dichter Carlo Gozzi greift 1762 eine dieser Geschichten auf und veröffentlicht seine Commedia dell’arte Turandot. Friedrich von Schiller wiederum erstellt hieraus 1801 ein Schauspiel mit Musik. 1920 wird Schillers Werk dann Puccini zugetragen, woraufhin er mit dem Librettisten Giuseppe Adami und dem Dramaturgen Renato Simoni im Exotismus des Stückes die daraus resultierenden Möglichkeiten erkennt, ein neues Werk gigantisch opulenten Ausmaßes zu schaffen. Dabei handelt es sich mitnichten um einen genuinen Puccinischen Einfall, denn schon Mahler greift im Lied von der Erde chinesischen Exotismus 1908 auf und auch Lehár komponiert mit der gelben Jacke eine Chinoiserie die 1923 zur Erstaufführung kommt (und dann ab 1929 als Land des Lächelns Erfolge feierte). Puccini erkennt hier – wie so häufig – eine weitere Mode seiner Zeit, die er dankbar aufnimmt und weiterentwickelt. Zusätzlich fällt Puccini eine chinesische Spieldose seines Freundes Baron Fassini-Camosso in die Hände, aus welcher er dankbar mehrere Melodien entnimmt, unter anderen eins zu eins die Melodie der Jasminblüte. Er transponiert sie lediglich um einen Halbton höher und setzt sie als Leitmotiv für Turandot ein, nicht zuletzt auch, da die Jasminblüte in China für Anmut und Schönheit steht.
Die von ihm gewünschte Exotik ist somit nicht nur absolut authentisch. Die Nutzung chinesischer Melodik ermöglicht ihm dabei die Nutzung eines bislang unbekannten musikalischen Farbspektrums und die Schaffung bombastischer, überbordender Kompositionen. Auch im Libretto macht Puccini mehr als deutlich klar, daß er einen exotisches Monumentalwerk schaffen will, in welchem sowohl die Bühne als auch die Musik in gigantischem Ausmaße die Geschichte der drei Rätsel der Turandot und dem unbekannten Prinzen zum Leben erwecken soll: „La Città Imperiale. Gli spalti massicci chiudono quasi tutta la scena in semicerchio. Soltanto a destra il giro è rotto da un grande loggiato tutto scolpito e intagliato a mostri, a liocorni, a fenici, coi pilastri sorretti dal dorso di massicce tartarughe” etc., etc. heisst es noch vor Beginn des 1. Aktes und so ziehen sich die Anweisungen durch das gesamte Libretto durch, auch Alfano legt bei seinem Teil von Turandot ab der Kuss-Szene klare Anweisungen fest: „L’esterno del palazzo imperiale (È tutto bianco di marmi traforati, sui quali i riflessi rosei dell’aurora s’accendono come fiori […])“. Eigentlich ist das mit Turandot also eine klare Geschichte: Puccini wollte eine exotische Chinoiserie schaffen, um einerseits imposante Bilder nutzen zu können und diese andererseits als Bebilderung für eine Musik nutzen, welche die Grenzen des musikalisch möglichen weiter auslotete.
Eigentlich. Denn Claus Guth sieht das anders. Er verortet Turandot als Psychodrama (das im Kopf von Turandot selbst angesiedelt ist?). In einem darstellerischen Vorspiel sehen wir Calaf durch eine Bodenklappe auf die Bühne steigen. Ihm zu Füßen sitzen viele, in grüne 70er Jahre Anzüge gekleidete Männchen mit roten Haaren. Er irrt zunächst seltsam auf der Bühne umher, nur um Einlass durch eine Tür zu erlangen, an welche er fast schon trotzig klopft. Schließlich öffnet sich diese doch und mit dem ersten Ton von Puccinis Komposition hebt sich die Wand und gibt den Blick auf eine karge Bühne frei. Wir sehen im Hintergrund die Eingangstür zu Sigmund Freuds Praxis in der Berggasse 19. Wer bislang nicht wusste, wie der von Puccini verlangte Kaiserpalast aussieht, sollte also nicht nach Peking, sondern bitte in den 9. Wiener Gemeindebezirk reisen. Die Kargheit der Bühne ist in einem reichlich gewöhnungsbedürftigen Grünstich gehalten, welcher aus einem Loriot-Sketch stammen könnte („So ein Braun-Grün-Grau. Mit einem Stich ins Grünliche.“), bei dem es zwar um Paartherapie geht, der aber mehr satirisch zu verstehen ist. Zwischendurch zeigen sich immer wieder aufgespielte Bilder, die Turandot hinter einer übergroßen, halb durchlässigen Leinwand zeigen. Mal verschmiert sie Blut, mal wälzt sie sich gegen jene Leinwand. In der Gong-Szene schlägt Calaf dann gegen die Berggassen-Tür der Freud Praxis. Um ein Trauma soll es hier laut Herrn Guth gehen, denn Turandot könne nicht wissen, wer sie sei, da ihre Großmutter Opfer einer Massenvergewaltigung geworden sei und somit Turandots Großvater unbekannt sei. Darauf muss man tatsächlich erstmal kommen, im Libretto steht das jedenfalls nicht.
Im zweiten Akt sehen wir zunächst Ping, Pang und Pong (ebenfalls als kleine grüne Männchen), wie sie sich nach Feierabend entkleiden und zum Jux mit den Köpfen der getöteten Prinzen herumalbern. Und hier ist angesichts der aktuellen politischen Lage dann tatsächlich eine Geschmacklosigkeit erreicht, die mit der Freiheit der Kunst nun wirklich nichts mehr zu tun hat. Niemals ist es angebracht, das Schänden von Leichen als heiteres Element in der Bühne einzubauen. Schon gar nicht, wenn gerade in diesen Tagen in Israel durch die Hamas genau ebendieses getan wird. Noch erschreckender ist jedoch, daß Claus Guth und sein Team offensichtlich nicht einmal im Ansatz über die Bedeutung dieser Darstellung nachgedacht haben. Eine kritische Reflexion über das Spiel mit den Köpfen bleibt aus, es scheint, als sei die Dimension dieser Darstellung vom Produktionsteam nicht umrissen worden. Andere Szenen versteigen sich wiederum in absurde, teilweise clownesque Darstellungen. Sei es, daß Jonas Kaufmann als Calaf erschrocken wirken soll, dabei aber nur albern über die Bühne torkelt. Sei es, daß Turandot mit einem kopflosen, rauchenden Mann an ihrer Seite den Raum im zweiten Akt betritt. Sei es, daß Ping, Pang und Pong eine Choreografie zugemutet wird, die diese aber nicht vernünftig beherrschen. Später im zweiten Akt wird die Bühne schließlich zum Zimmer Turandots, in der dann zusätzlich noch ihr Bett steht. Ihre Hofdamen tragen Puppenmasken. Nach Lösung aller Rätsel im dritten Akt ist dieses Zimmer verwüstet, wird dann aber am Ende des dritten Akts wieder „aufgeräumt“ sein.
Von der Aufarbeitung eines Traumas ist da nirgendwo etwas zu sehen, höchstens nur an ein, zwei Ecken zu erahnen – wenn man die vermeintliche Intention Herrn Guths im Vorfeld kennt. Immer wieder tauchen dafür wirre Elemente auf der Bühne auf, die eigentlich gar keinen Zusammenhang und Konnex zum erklärten Thema erkennen lassen. Und zwar weder dem von Puccini noch dem von Claus Guth. Köpfe werden von den kleinen grünen Männchen ausgemessen, diese tragen geöffnete (und leere) Aktenordner vor sich her um Calaf, Liù und Timur auf Sessel in den Ecken zu drängen, Liù wird durch gleich vier weitere Statistinnen zusätzlich dargestellt. Lediglich eine Szene weiß hier durch ihre Intensität zu überzeugen: Nämlich als Turandot ihre Beine im Würgegriff um Liù schlingt, ihre Haare zu einem Zopf flicht, nur um sie dann in voller Kraft an diesen zu ziehen und sich in sadistischem Genuß an ihrem Leid zu weiden. Das ist spielerisch von Frau Grigorian wie auch von Frau Mkhitaryan wirklich sensationell, aber leider auch der einzige Moment an diesem Abend, an dem tatsächlich echte Emotionen aufkommen.
Offensichtlich hat es sich Claus Guth also bei dieser Produktion gar zu einfach gemacht, schlichtweg einige billige Effekthaschereien aus der Regietheater Truhe der 70er Jahre geholt (Oh, eine karge Bühne. Oh, Blutspuren. Mein Gott wie „skandalös“, jetzt spiele ich mal Bürgerschreck…) und dabei vergessen, daß dies heute bei wirklich niemandem mehr auch nur irgendeine Reaktion hervorruft. Wenn es dann schon Regietheater sein muss, bietet sich doch bei Turandot das schreiende Thema von Dominanz auf. Denn Calaf tut nichts anderes, als Turandot ihre Freiheit als Frau zu nehmen, die sie klar und deutlich als Motivation ihres Handelns kommuniziert: „No, no! Mai nessun m’avrà! Ah, rinasce in me l’orgoglio di tanta purità!”. Durch die Gewalt, die ihrer Großmutter angetan wurde, ist sie schockiert von männlichem Verhalten und ruft das Matriarchat aus. Und sie ist bereit, ihre Freiheit und Macht auf das Äußerste zu verteidigen und jeden Werber deshalb enthaupten zu lassen. Radikaler Aktivismus sozusagen, ganz im Geiste von 68, heutige Aktivisten kleben sich nur noch auf Straßen fest. Doch Calaf ignoriert das und beschließt Turandot in die Knie zu zwingen. Es genügt ihm dabei nicht nur, die Rätsel zu lösen und über Turandots Strategie zu triumphieren. In einer ebenso plakativen wie unterdrückerischen Machtdemonstration will er ihr vorführen, dass es ihr nicht einmal gelingen wird, seinen Namen zu erraten und er sie nach nur einer Nacht des Abwartens, also ganz ohne eigenes proaktives Handeln, beherrschen wird. Dafür nimmt er sogar den Tod Liùs in Kauf. Denn anstatt die „piccola Liù“ zu schützen, fokussiert er weiter auf den Sieg gegen Turandot – der eigentlich schon längst nicht mehr nötig gewesen wäre. Wenn es so etwas wie „toxische Männlichkeit“ gibt, dann doch wohl hier!
Doch anstatt dieses nun mehr als schwierige Verhalten aufzugreifen, betreibt Herr Guth selbst „Mansplaining“ und erklärt uns allen, daß Turandot in Wirklichkeit eine traumatisierte Frau ist, die sich selbst nicht zu helfen weiß und das erzwungene Eindringen eines Mannes in ihre Psyche benötigt, damit dieser sie dann ungefragt kuriert. Woher Herr Guth diese Idee nimmt, erschließt sich wahrlich nicht. Dafür gleicht sie in ihrer Struktur doch dem Vorgehen Calafs selbst. Leider setzt Herr Guth diese Idee wie schon beschrieben auch nicht konsistent um, verharrt in Andeutungen und einzelnen, symbolischen Effekt-Versuchen. Stattdessen reiht sich die Produktion in den üblichen graun-brau-grünen Einheitsbrei der Regietheater-Produktionen, die wir an der Staatsoper mittlerweile zur Genüge kennengelernt haben. Das Ganze könnte auch genauso gut Salome, Tristan oder Don Giovanni sein, die Unterschiede der Produktionen am Opernring sind streng genommen marginal. Ganz ungeachtet der Frage, wie sich eine solche Produktion zum Repertoire eignen soll, ist qualitativ für diese festzuhalten: Prädikat wertlos!
Mit Spannung erwarten wir an diesem Abend auch die Leistung von Jonas Kaufmann als Calaf. Wie bekannt, musste man in den vergangenen Monaten feststellen, daß sein früher wirklich kräftiger und imposanter Tenor zunehmend leise wurde. Zahlreiche Absagen reihten sich aneinander, doch der jüngste Otello in Wien wurde als glanzvolles Comeback beschrieben und Kaufmann vielfach wieder hochgejubelt. So lässt Herr Kaufmann im Vorfeld während der Matinee zu Turandot dann auch vollmundig verlauten, daß die Arie „Nessun dorma“ eigentlich sehr einfach sei. Und überhaupt fände er die Aussagen von „Pseudoexperten“ (O-Ton) irrelevant, wenn diese der Meinung seien, ein häufiger Fachwechsel tue der Stimme nicht gut. Die dadurch geweckten Erwartungen konnte Herr Kaufmann an diesem Abend leider nicht erfüllen. Wie schon angerissen wirkt er spielerisch eher plump und stellenweise sogar albern, steht manchmal aber auch statisch auf der Bühne in lustloser Haltung da. Es ist nicht ganz klar, ob das Regieanweisungen sind, oder ob Herr Kaufmann einfach gelangweilt ist, da es aus der Regie keine detaillierten Regieanweisungen gegeben hat. Stellenweise hampelt Herr Kaufmann dann im ersten Akt so absurd herum, dass wir den Eindruck bekommen, hier handele es sich um eine (schlechte) Komödie mit dem Titel „Jonas und die kleinen grünen Männchen“. Aber vielleicht soll diese Produktion ja auf dem Mars spielen. Allerdings wäre das Publikum dann mit Ziggy Stardust deutlich besser bedient gewesen.
Denn gesanglich geht Herr Kaufmann im ersten Akt allzu häufig stimmlich unter. Dies liegt keinesfalls an der Lautstärke des Orchesters, Dan Paul Dumitrescu schafft es, als Timur ohne weiteres in dieser Klangkulisse ausgezeichnet mitzuhalten. Im Vergleich mit Jonas Kaufmann, der dann neben ihm singt, ist Herr Dumitrescu dann ungefähr doppelt so laut, beziehungsweise Jonas Kaufmann doppelt so leise. Die Turandot-Rufe zum Ende des ersten Akts verschwinden dann fast völlig unter der Musik und man muss sich fragen, ob Herr Kaufmann überhaupt anwesend ist. Das wiederholt sich des Öfteren, beispielsweise bei „chiede colui che non sorride più“, wird zwar zu Beginn des zweiten Akts leicht besser, setzt sich dann aber bei der ersten Auseinandersetzung zwischen Turandot und Calaf weiter fort: „Gli enigmi sono tre, una è la vita!“ verschwindet wieder fast vollständig in der Gesamtheit der Musik und des Gesangs von Turandot. Wenig überzeugend für einen Calaf. Doch es wird tatsächlich noch schlimmer, in „Figlio del cielo“ beginnt er zu pressen und quiekt bei „No, no, Principessa altera! Ti voglio ardente d’amor!“ den letzten Ton, so daß wir fast schon peinlich berührt sind.
Schließlich leitet der Chor „Nessun dorma“ ein und mit einem Mal scheint sich der Himmel aufzutun, denn bei „no, no sulla tua bocca lo dirò“ strömt auf einmal in unglaublicher Wärme und Schönheit die verloren geglaubte Stimme Herrn Kaufmanns durch den Saal, als wäre es nie anders gewesen. Ein regelrechter Moment der Erlösung, ein Moment, auf den alle gewartet haben und der den gesamten Abend zu einer Sternstunde machen kann. Der Chor unterbricht „ahimè, morir, morir“ und plötzlich legt sich wieder dieser Schleier auf der Stimme Herrn Kaufmanns, der das vorhin noch erlebte, majestätische Schimmern abdämpft und mit einer unschönen Patina belegt, ja die Stimme regelrecht eintrübt. Die Stimme Herrn Kaufmanns macht zu und das letzte „Vincerò“ bleibt zu kurz, fast abgehackt und ertrinkt viel zu schnell in den Wogen des musikalischen Ozeans von Puccinis gigantischer Komposition. Jubel nur vom Jonas Kaufmann Fanclub der zufällig geschlossen Mitte rechts auf der Galerie sitzt – oder ist es doch die bestellte Claque? Keine Encore.
„Wann hat man bei Turandot zuletzt geheult?“, fragte Herr Kaufmann auch während der Matinee. An diesem Abend jedenfalls nicht einmal vor Wut oder Trauer. Als „Pseudoexperten“ schütteln wir höchstens den Kopf über so viel Überheblichkeit, die im krassen Kontrast zur erbrachten Leistung steht.
Im krassen Kontrast dazu steht auch Asmik Griorian als Turandot, denn gleich vom ersten Moment an, als sie in der zweiten Szene des zweiten Akts auf der Bühne zu sehen ist (im Kinder-, pardon, Prinzessinnenbett kauernd) strahlt sie eine unfassbare Präsenz aus. Ohne Frage hat sie sich intensiv mit der Rolle auseinandergesetzt und als sie „In questa Reggia“ beginnt, legt sie einen unfassbar guten Auftakt vor: Aus der Tiefe ihrer Seele scheint ihre Stimme zu klingen, vielschichtig, sensibel und doch stark, in einem fast schon sphärischen Klang, der undefinierbar scheint und trotz all seiner Stärke voller Leid und Trauer ist. Langsam, gemeinsam mit der Komposition steigert sich Frau Grigorian dann weiter und weiter von ihrer zunächst anklagenden Stimme in nackte und blanke Wut und massiven Trotz: „Io vendico su voi, quella purezza, quel grido“, die Wut scheint sich ins Rasende aufzutürmen und dann verpasst sie bei „e qualla morte“ den Ton und kippt ins Kreischen. Ohne Zweifel setzt Frau Grigorian an diesem Abend eine stimmliche Kraft frei, scheitert aber in Folge immer wieder an den hohen Tönen. Dies wirkt sich leider auch auf ihr Spiel aus, es scheint, als würde sie ihre gesamte Energie dafür aufbringen müssen, die Partie zu singen, nur um wieder und wieder ins schrill-kreischende abzudriften. Nach dem Tod Liùs kehrt noch einmal ihr faszinierender, erdig-wärmender Tonfall aus dem zweiten Akt zurück, kippt aber auch hier bei „Più gran vottoria non voler“ ins Schrille, Unangenehme ab, teilweise sind ihre Passagen wirklich schmerzhaft zu hören. In Kombination mit dem Schluss Alfanos entwickeln sich zum Ende des 3. Aktes dann auch noch große Längen, die in Kombination mit den schrillen Tönen von Frau Grigorian fast schon Kopfschmerzen verursachen. „Padre Augusto“ wird dann leider nicht zum triumphalen Finale der Liebe, sondern zu einer Erlösung im Sinne von Depeche Mode: „Enjoy the silence“.
Doch tatsächlich gibt es an diesem Abend auch Gutes zu berichten, denn das Dirigat von Marco Armiliato ist tatsächlich sensationell! Wie immer dirigiert er auswendig und seziert Turandot bis ins kleinste Detail, betont einzelne Instrumentengruppen und setzt die Komposition scheints neu zusammen, so daß dieses Werk den Eindruck erzeugt, brandneu zu sein. Ihm gelingen sensationelle Pianissimi die in ihrer Stille den gesamten Saal ausfüllen und wogende, gigantische Klangwellen, die sich wie Tsunamis über unseren Köpfen zusammenschlagen. Vielleicht wäre genau das die ideale Variante des Abends gewesen, eine konzertante Turandot, in der sich alle Stimmen auf die Komposition konzentrieren können und ein Klangerlebnis der Extraklasse erzeugen. Doch so kennt Puccini keine Gnade und fordert nicht nur die Köpfe der zahlreichen Werber Turandots, sondern auch die Stimmen von Jonas Kaufmann und Asmik Grigorian ein. Gnadenlos hält sich Maestro Armiliato an die Partitur, muss ihr ja auch folgen und erzeugt mit den Philharmonikern eine Turandot der Extraklasse, dass uns der Atem stockt – Bravissimi an den Marco Armiliato und die Wiener Philharmoniker!
Was also ist das Fazit des Abends? Zum einen stellt sich Claus Guth mit seiner „Lesart“ von Turandot über das Genie Giacomo Puccinis. Natürlich scheitert er damit, denn es gelingt ihm nicht, eine in sich konsistente Produktion zu entwickeln und somit mindestens Regietheater mit einer eigenen Interpretation oder Deutung zu schaffen. Stattdessen sehen wir eine inhaltsleere, farblich geschmacklose Inszenierung, die stellenweise so unreflektiert ist, daß sie die Grenze zur Pietätlosigkeit überschreitet. Es entsteht dabei jedoch auch keine Provokation, sondern nur die Frage, ob das wirklich ernst gemeint ist. Entsprechend ist ein Besuch dieser Produktion unserer Meinung nach schlicht rausgeschmissenes Geld. Unter dem Vorwand der Verjüngung der Hausrepertoires muss die Turandot Marco Arturo Marellis weichen, die gerade einmal 8 Jahre alt war und 23-mal an der Wiener Staatsoper gespielt wurde. Stattdessen gibt es nun „einen Unfug sondergleichen“ (Klassik-begeistert.de ), eine „Scharade, die nicht einmal als konzertante Aufführung des Werkes gelten darf“ (Die Presse)- Geschätzte Kosten dafür wahrscheinlich 250.000 € oder mehr. Wer davon profitiert, ist unklar, jedenfalls weder das Publikum noch die Institution Wiener Staatsoper und ihr Ruf.
Übrigens: Gerüchten zur Folge ist für die Saison 25/ 26 geplant, einen anderen Puccini-Klassiker zu ersetzen. Die historische Wallmann-Inszenierung von Tosca aus dem Jahr 1958 soll weichen. Auch hier wird wahrscheinlich wieder „feinstes“ Regietheater ohne Sinn und treffende Idee zum Zuge kommen. Daß seit 1958 fast jeder große Opernname in dieser Inszenierung gespielt hat, spielt dabei keine Rolle. Die Direktion unter Bogdan Roščić wird ihren kulturkämpferischen Kurs weiterfahren und auf belehrende, unästhetische Produktionen setzen, die zwar nicht dem Geschmack des Wiener Publikums entspricht, welches aber dennoch zahlen darf, um durch Steuergelder das Juste-Milieu zu bedienen.
Wer auf dem Weg von oder zur Wiener Staatsoper die Kärntner Strasse entlang geht, wird an der Stelle der Hausnummer 30 einen Cannabis-Laden entdecken. Hier war bis 2021 noch das legendäre EMI-Plattengeschäft zu finden, welches auf drei Stockwerken Musikkultur in allen Facetten anbot. In befremdlichem Grün strahlen nun die Werbelichter des Cannabis-Geschäftes in die Nacht und bieten allerlei Marihuana-Produkte an. Ein Zeugnis des kulturellen Verfalls: Drogenrausch statt musikalischer Extase. Auch auf der Bühne der Staatsoper war an diesem Abend statt eines musikalischen und inszenatorischen Feuerwerks, in unangenehmer, grüner Ausleuchtung kultureller Verfall zu sehen.
19. Dezember 2023 E.A.L.
Besonderer Dank an unseren Kooprationspartner MERKER-online (Wien)
Turandot
Giacomo Puccini
Wiener Staatsoper
16. Dezember 2023
Premiere 7. Dezember 2023
Regie: Claus Guth
Dirigat: Marco Armiliato
Wiener Philharmoniker