Bremen: „33. Musikfest“, Teil 2

Sinfonische Höhepunkte

Es passierte nicht zum ersten Mal beim Musikfest, dass nicht nur die Gäste für besondere Höhepunkte sorgten, sondern auch und besonders die Bremer Orchester. So war es auch beim Konzert der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen.

Denn das konnte mit einer Uraufführung begeistern, nämlich mit der Sinfonie Nr. 5 op. 102 von Fazil Say. Das gut dreißigminütige und dreisätzige Werk ist eine Auftragskomposition des Musikfests. „Es ist eines meiner originellsten und persönlichsten Werke“, sagt Say. Er hat seiner neuen Sinfonie, anders als bei ihren Vorgängern, kein Gesamtmotto gegeben, wohl aber den einzelnen Sätzen: Revolts & Longings, Elegy sowie Tree of Life. Er verbindet damit eine Auseinandersetzung mit den Krisen und Veränderungen der letzten Jahre, mit tragischen Ereignissen der jüngeren türkischen Geschichte sowie mit Menschen, die „fest mit dem Leben verbunden sind“.

Aber auch ohne genaue Kenntnis dieser Assoziationen wirkt Says Musik in geradezu überwältigender Weise. Sie wird zentral bestimmt vom Rhythmus der Pauken und Trommeln sowie anderen Schlaginstrumenten, etwa der türkischen Kudüm-Trommel. Ansonsten hält sich der Einfluss türkischer Musik bei diesem Werk sehr in Grenzen. Say setzt sehr auf die markanten und machtvollen Einsätze der Bläser, auf einen rauschhaften Klang der Streicher und eben auf einen überdurchschnittlichen Einsatz des Schlagwerks. An manchen Stellen fühlt man sich an die „West Side Story“ erinnert, an anderen an Strawinsky. Rhythmus kommt vor Melodien, obwohl auch solche, etwa im Mittelsatz, zart und kunstvoll entwickelt werden. Und auch Naturstimmen sind zu vernehmen, unterstrichen durch den Einsatz einer Art Windmaschine. Diese Sinfonie wird ihren Weg über die Konzertbühnen machen.

Die Deutsche Kammerphilharmonie hat diese Uraufführung unter der Leitung der jungen und in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Dirigentin Nil Venditti mit bravourösem Einsatz realisiert. Vendetti ist erst 27 Jahre alt, hat aber bereits eine bemerkenswerte Karriere hingelegt. Wenn man sie erlebt, weiß man warum: Sie ist ein Bündel an Energie und weiß genau, wie man punktgenaue Akzente setzt und einen optimalen Klang erzeugt. Und sie hat Charme ohne Ende, was sie bei der verschmitzt servierten Zugabe mit dem Ungarischen Tanz Nr. 6 von Brahms beweist. Allein die „Choreographie“, mit der sie das Orchester präsentiert, ist eine Show für sich. Brava!

Vor der Pause gab es zunächst die wie am Schnürchen abschnurrende Ouvertüre zu Rossinis La scala di seta („Die seidene Leiter“) – so sprühend und schwungvoll musiziert, dass es eine reine Freude war. Beim Violinkonzert D-Dur op. 35 von Peter Tschaikowsky konnte man die Bekanntschaft mit der 23-jährigen Japanerin Moné Hattori machen. Die Geigerin verfügt über einen kraftvollen Ton und eine fast reißerische Virtuosität in der Kadenz. Aber sie hat auch die Fähigkeit zu inniger Zartheit, wie sie im melancholischen, verträumten 2. Satz demonstrierte. Im letzten Satz drückte sie ordentlich aufs Tempo und sorgte für ein furioses Finale. Auch bei diesem Violinkonzert zeigte die Dirigentin Nil Venditti ihren Sinn für Proportionen und ein perfektes Wechselspiel zwischen Solistin und Orchester. Hattori bedankte sich für den Jubel des Publikums mit dem letzten Satz aus der 2. Violinsonate von Eugène Ysaÿe. (04.09.2022)

Liederabende mit Werken von Franz Schubert und Ludwig van Beethoven sind eigentlich nichts Ungewöhnliches, wohl aber wenn dabei ein Hammerflügel zum Einsatz kommt. Hier begleitet die Pianistin Olga Pashchenko den Bariton Georg Nigl auf einem Instrument von Conrad Graf (Wien ca. 1827) aus der Sammlung Edwin Beunk. Das gab dem Abend eine Note der besonderen Art, denn zwischen dem Klang eines Hammerflügels und dem eines modernen Flügels liegen Welten. Das war unmittelbar nachvollziehbar, weil Pashchenko für „Vermischter Traum“ von Wolfgang Rihm an einen Steinway wechselte.

Der Hammerflügel zeichnet sich durch einen schlanken, obertonreichen und hellen Klang aus, weniger voluminös, aber durchsichtiger. Das bekommt den Schubert-Liedern sehr gut – so oder ähnlich muss es bei den berühmten Schubertiaden geklungen haben.

Passend dazu die Stimme von Georg Nigl, dessen Schwerpunkte beim Barock und bei der Moderne liegen. Er hat keine Stimme, mit der er seine Zuhörer „überrumpeln“ kann. Sein nicht allzu voluminöser Bariton ist sehr schlank, hell timbriert und klingt etwas monochrom. „Vanitas“ („Vergänglichkeit“) nannte er sein Programm, das auch auf einer gleichnamigen CD veröffentlicht wurde. Es stellt viele bekannte Schubert-Lieder wie „Die Taubenpost“, „Die Forelle“, „Der Wanderer an den Mond“, „Fischerweise“ oder „An die Musik“ neben seltenere („Im Freien“, „Der Winterabend“, „Abendstern“). Oft ist Tod, Vergänglichkeit und unerfüllte Sehnsucht das Thema. Das gilt auch für Beethovens Zyklus „An die ferne Geliebte“, bei dem die sechs Lieder ohne Pause ineinander übergehen. Nigl singt alles untadelig und schlicht, hält sich aber im Ausdruck sehr zurück. Emotionen werden nicht über den Gesang, sondern nur über den Text vermittelt. Dadurch entsteht der Eindruck einer gewissen Eintönigkeit.

Mit der Zurückhaltung ist es bei dem Zyklus „Vermischte Träume“ von Wolfgang Rihm dann aber vorbei. Der Komponist hat diese Lieder auf Texte von Andreas Gryphius dem Sänger gewidmet. Hier zeigt sich Nigl ganz in seinem Element und beeindruckt mit expressionistischen Aufschwüngen und stimmlicher Variationsbreite.

Der Abend endet wieder in ruhigem Fahrwasser mit Schubert. Drei Zugaben, darunter „Das Fischermädchen“ und „Wanderers Nachtlied“, gibt es obendrein. (05.09.2022)

Ähnlich wie der Beitrag der Deutschen Kammerphilharmonie war auch de Auftritt der Bremer Philharmoniker ein Highlight des Musikfestes. Schon die Programmzusammensetzung mit Dvořák im ersten und Gershwin im zweiten Teil machte neugierig. „Zwischen den Welten“ war das Motto des Abends. Antonin Dvořáks Sinfonie Nr. 8 G-Dur op. 88 ist, wenn man so will, ein Werk „aus der alten Welt“, während seine 9. Sinfonie ja den Titel „Aus der neuen Welt“ trägt. Die achte Sinfonie scheint jedenfalls Dvořáks glückliche Lebensumstände widerzuspiegeln. Es ist ein fast durchgängig heiteres und unbeschwertes Werk, bei dem man böhmische Naturlandschaften und fröhliche Dorffeste assoziieren kann. Marko Letonja bereitete diese wunderbare Musik mit prachtvollem Klang und ruhigem Fluss auf. Da geriet nichts aus dem Gleichgewicht. Strahlende Blechbläser und seidiger Streicherschmelz bestimmten das Klangbild, die mächtigen Aufschwünge im Kopfsatz und auch im Adagio wurden organisch und ohne jede Effekthascherei entwickelt. Der tänzerische Duktus des 3. Satzes wurde von Letonja sehr ansprechend umgesetzt – böhmisches Musikantentum in bester Manier. Die Trompetenfanfaren, die bruchlos in den letzen Satz führen, erklangen sauber und strahlend. Das Finale, in welchem die Themen in vielfachen Variationen abgewandelt werden, steigerte Letonja grandios bis zum Fortissimo am Ende.

Dann der Sprung in die „Neue Welt“: Porgy and Bess von George Gershwin ist ein singuläres Werk, das mit keinem anderen vergleichbar ist. Hier werden große Oper und Jazzelemente zu einer glückhaften Einheit verschmolzen. Viele der Arien und Songs sind auch für sich allein zu Hits geworden, allen voran das berühmte „Summertime“, mit dem Nicole Cabell gleich zu Anfang einen Glanzpunkt setzte. Mit ihrem lyrischen Sopran und dem kraftvoll, aber nie „ordinär“ eingesetzten Brustregister konnte sie restlos überzeugen. Das war Gesang mit Seele und Energie. Auch Eric Greene war mit seinem dunklen, markanten Bariton eine gute Wahl. Zu Beginn wurde er von Letonja und den spritzig und jazzig aufspielenden Bremer Philharmonikern noch etwas zugedeckt, aber das gab sich schnell. Beim Duett „Bess, You is My Woman Now“ strömte seine Stimme voller Wärme und Empfindung. Ob bei „I Got Plenty O’ Nuttin’“, „My Man’s Gone Now“, „I Loves You, Porgy“ oder dem bewegenden “I’m On My Way” – die Interpretation von Cabell und Greene war stimmig und überzeugend. (07.09.2022)

Das 1981 gegründete und von Claudio Abbado geförderte Chamber Orchestra of Europe ist seit gut 25 Jahren regelmäßiger und gern gesehener Gast beim Bremer Musikfest. Unter dem Motto „Künstlerfreundschaften der Romantik“ bestritt es mit Werken von Carl Maria von Weber, Robert Schumann und Johannes Brahms das diesjährige Abschlusskonzert. Dass das Orchester ein Klangkörper erster Wahl ist, konnte es auch hier unter seinem Dirigenten Robin Ticciati beweisen. Er traf in der Freischütz-Ouvertüre die romantische Waldstimmung (trotz eines kleinen Malheurs der Hörner), beschwor die unheimliche Atmosphäre der Wolfschlucht und sicherte dem Schluss strahlenden Jubel. Die Ouvertüre reiht die Themen der Oper zwar aneinander, wirkt aber doch wie ein in sich geschlossenes Konzertstück. Das machten Ticciati und das Orchester sehr deutlich.

Das Klavierkonzert a-Moll op. 54 von Robert Schumann bescherte die Begegnung mit dem Pianisten Francesco Piemontesi. Es ist Schumanns einziges Klavierkonzert und gilt als Inbegriff des romantischen Klavierkonzerts. Es ist nicht unbedingt „Virtuosenfutter“, aber dafür sind Klavier- und Orchesterpart miteinander aufs Feinste verwoben. Dieses Miteinander konnte Piemontesi vorbildlich erfüllen. Selten konnte man ein so feinfühliges und diszipliniertes Spiel erleben. Piemontesi ließ das Klavier zwischendurch auch mal mit donnernder Wucht erklingen (etwa in der Kadenz), aber das war nie Selbstzweck. Sein Ansatz einer geradezu liedhaften Spielweise und das perfekt abgestimmte Wechselspiel mit dem Orchester machte Schumanns Werk zu einem Erlebnis. Mit der Zugabe (Schuberts Impromptu op. 90 Nr. 3) bezauberte Piemontesi restlos – ein wie ein Nocturne strömender „Gesang“ voller Ruhe und Poesie.

Bei der Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68 von Johannes Brahms setzte Ticciati ganz auf einen vollen Orchesterklang, auf viel Drive und eine immer aufs Neue antreibende Motorik. Die Dramatik der Ecksätze wurde wirkungsvoll gestaltet, aber auch für die eher lyrischen Mittelsätze fand Ticciati einen überzeugenden Zugang mit ausgesprochenem Wohlklang. Vielleicht hat er im Finalsatz manchmal ein zu gehetztes Tempo gewählt und vielleicht hätte die dynamische Spannweite (viel Fortissimo) etwas ausgefeilter sein können, aber insgesamt war es eine wuchtige, oft begeisternde Wiedergabe. (09.09.2022)

Wie auch im letzten Jahr gab es als „Zugabe“ beim Musikfest ein Geschenk an die Bremer. Martin Grubinger & The Percussive Planet Ensemble gaben mit „Die ultimative Percussion Show“ bei bestem Wetter und freiem Eintritt ein fast dreistündiges Konzert auf dem Bremer Marktplatz.

Grubinger hat sein Ensemble um eine Big-Band auf über 20 Mitwirkende erweitert,

mit Posaunen, Trompeten, Saxophon, E-Bass und E-Gitarre. Zu Beginn gab es Dyu Ha op. 46, ein eindrucksvolles Stück für sieben Taiko Drums von Maki Ishii. Dann erst kam die Big-Band zum Einsatz: Filmmusik von John Williams, die Martin Grubinger sen. zu einer Suite arrangiert hat, natürlich auch mit dem berühmten Thema aus „Star Wars“. Perkussions-Instrumente verschiedenster Art standen im Mittelpunkt, aber oft war es auch einfach Big-Band-Jazz vom Feinsten. Das zog sich durch alle Stücke des Programms durch, ob es nun um Teen Town von Jaco Pasorius, um Trains der Gruppe Step Ahead oder um Birdland von Joe Zawinul ging. Auch ein Stück von Fazil Say, dessen Schlagzeugkonzert Grubinger mit der Deutschen Kammerphilharmonie 2019 uraufgeführt hatte, gab es zu hören: die Adaption eines bulgarischen Volkslieds, bei dem zunächst nur drei Trommeln und dann immer mehr Instrumente bis zum vollen Orchester zum Einsatz kamen. Ein besonderer Höhepunkt war der Einsatz von Txalapartas bei The Number of Fate. Das sind baskische Perkussionsinstrumente, die aus mehreren Holzbalken bestehen und die mit senkrecht gehaltenen Stöcken geschlagen werden. Grubingers Ensemble brannte hier ein unglaubliches Feuerwerk ab. Überhaupt war die Perfektion, mit der an immer neuen Schlaginstrumenten die vertracktesten Rhythmen und deren Wechsel umgesetzt wurden, phänomenal. Solistisch glänzte ohnehin jeder. Das gilt auch für die hervorragenden Trompeten und Posaunen, die zusammen einen magischen Sound produzierten. Auch hier gab es umwerdende Einzelleistungen, etwa mit Alexander von Hagke am Saxophon. Dirigiert wurden die vielschichtigen und komplexen Einsätze der Big Band von Martin Grubinger sen. mit präzisen Einsätzen und vor allem mit sichtbarer Freude. (10.09.2022)

Wolfgang Denker, 11.9.2022

Foto Fazil Say von Marco Borggreve
Foto Deutsche Kammerphilharmonie von Julia Baier
Foto Georg Nigl von Anita Schmid
Foto Olga Pashchenko von Yat Ho Tsang
Foto Bremer Philharmoniker von Caspar Sessler
Foto Nicole Cabell von Devon Cass
Foto Eric Greene von Athole Still Artists
Foto Francesco Piemontesi von Marco Borggreve
Foto Chamber Orchestra of Europe von Julia Weseky
Foto Robin Ticciati von Giorgia Bertazzi
Foto Martin Grubinger von Simon Pauly