„32. Musikfest Bremen“, Teil 2

Jazziges, Sinfonisches und Getrommeltes

Obwohl die in Frankreich geborene und in New York lebende Jazz-Sängerin Cyrille Aimée schon mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde und eine stattliche Diskografie vorweisen kann, dürfte sie in Deutschland noch eher ein Geheimtipp sein. 2007 gewann sie den 1. Preis beim Montreux Jazz Festival, 2010 war sie Siegerin des Sarah Vaughan International Jazz Vocal Competition und 2015 gewann sie den Down Beat Kritiker-Poll.

Die New York Times bezeichnete sie als „aufgehenden Stern in der Galaxie der Jazzsängerinnen“. Nicht ohne Grund, wie man sich bei ihrem Auftritt im Bremer BLG-Forum überzeugen konnte. „Cyrille’s Variety” war das Konzert betitelt. Und ihre Vielseitigkeit stellte sie unter Beweis. Da stand lockerer Swing neben französischem Chanson, neben Scat-Gesang im Stil von Ella Fitzgerald und neben südamerikanischen Rhythmen mit Anklängen an Astrud Gilberto. Cyrille Aimée sang abwechselnd in französischer, englischer und spanischer Sprache. Aimée hat nicht unbedingt eine Riesenstimme, dafür aber eine schlanke und bewegliche, die sie kunstvoll und vielseitig einsetzen kann. Zudem verfügt sie über ein warmes und sehr schönes Timbre. Begeleitet wurde sie in klassischer Jazz-Besetzung: Dave Torkanowsky (Klavier), Pedro Segundo (Schlagzeug) und Lex Warshawsky (Kontrabass und Bassgitarrre) sorgten bei jedem Song für einen perfekt ausgewogenen Klang. Aimeé gab ihrem Trio bei fast jedem Song sehr viel Freiraum und überließ ihm den Mittelteil für solistische oder improvisierte Passagen. Da gab es intime Klänge in der Nähe von Bar-Jazz, aber auch mitreißende, fetzige Einlagen. Bei manchen Songs, etwa bei einem von ihr selbst in Costa Rica geschriebenen, setze Aimée sich auf einen Hocker und begleitete sich allein an der Gitarre. Das waren stille, träumerische Momente.

In ihrem neuesten Projekt hat sich Cyrille Aimée mit den Liedern des Musical-Komponisten Stephen Sondheim beschäftigt, der auch Librettist von Bernsteins „West Side Story“ war. Sie präsentierte sich hier als einfühlsame, emotionsreich Interpretin von Balladen, etwa bei „Loving you“ aus „Passion“ oder einem Lied aus „Into the Woods“.

Für eine Überraschung sorgte Aimée bei der Nummer „Down“, als sie mit einem Looper allein auf der Bühne stand. Ein Looper ist ein Gerät, mit dem man seine Stimme aufnehmen und in einer Endlos-Schleife (Loop) schichtweise übereinanderlegen kann. So entstand nach und nach ein polyphoner Chor allein mit der Stimme von Cyrille Aimée. Sehr eindrucksvoll und originell. Ein fulminantes Finale mit einem Ausflug nach Brasilien krönte ein Konzert, das mit Jazz vom Feinsten aufwarten konnte – ohne extreme Experimente, dafür zum Wohlfühlen und Entspannen.

Für die im letzten Jahr wegen Corona ausgefallene Tournee der Bremer Philharmoniker durch Korea hatten sich die Koreaner vor allem Brahms gewünscht. Der steht nun nicht nur in der neuen Saison 2021/22 auf dem Programm, sondern mit Johannes Brahms präsentierten sich die Bremer Philharmoniker auch beim Musikfest. Seine Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98 gehört zu den beliebtesten Werken des Konzertrepertoires. Und Bremens GMD Marko Letonja gelingt eine eindrucksvolle, insgesamt sehr homogene Wiedergabe. Die herbstliche Stimmung des Kopfsatzes wird genau getroffen, die Themen werden klar entwickelt und am Ende zu majestätischer Größe gesteigert. Das Andante moderato, bei dem die Streicher anfangs nur im Pizzicato eingesetzt werden, steht mit seiner lieblichen, fast verträumten Grundstimmung dazu ebenso im Kontrast wie zum folgenden Allegro giocoso. Hier lässt Letonja dem stampfenden Rhythmus freien Lauf und beschwört eine fast trotzige Fröhlichkeit. Über alle Sätze hindurch findet Letonja zu einer bemerkenswerten Ausgewogenheit zwischen Klang und Struktur. Das gilt auch für den Finalsatz, bei dem die Struktur mit ihren Variationen in Form von Chaconne und Passacaglia eine besondere Rolle spielt. Letonjas Art zu dirigieren wird stets aus der Ruhe entwickelt, was nicht heißt, dass er nicht auch energisch zugreifen kann. Aber alles wird ohne jegliche Effekthascherei aus dem Geist der Musik abgeleitet.

Zuvor gab es das Violinkonzert D-Dur op. 35 von Peter Tschaikowsky.

Obwohl der Geiger Daniel Lozakovich erst zwanzig Jahre alt ist, kann er bereits eine bemerkenswerte Karriere vorweisen. Schon als Achtjähriger trat er als Solist auf, hat inzwischen mit namhaften Dirigenten wie Vladimir Spivakov oder Valerie Gergiev zusammengearbeitet und auf internationalen Festivals gespielt. Seit 2016 hat er einen Exklusivvertrag bei der Deutschen Grammophon Gesellschaft.

Lozakovich verfügt über einen schlanken, singenden Ton, mit dem er sich über das Orchester schwingt. Er spielt mit Wärme und Süße, aber ohne Sentimentalität. Den reinen Virtuosen gibt er nur in den Kadenzen des 1. und besonders des 3. Satzes, die atemberaubend gestaltet werden. Trotz seiner Jugend spielt Lozakovich nicht draufgängerisch, sondern immer diszipliniert. Seine Technik ist hervorragend und ermöglicht es ihm, vor allem zarte Töne von innigster, feinster Klangfarbe zu produzieren. Letonja und die Bremer Philharmonker erweisen sich als subtile Begleiter, die dem Solisten den Vorrang lassen. Nur wenn der Pause hat, lässt Letonja es ordentlich schmettern und lässt Tschaikowskys effektvollen Orchestersatz aufblühen. (14.9.)

Teodor Currentzis dirigiert und das Orchester sitzt? Was er bei seinem Ensemble Musica Aeterna häufig praktiziert, nämlich dass die Musiker im Stehen spielen, gilt für das SWR Symphonieorchester offensichtlich nicht. Dessen Chef ist er seit der Saison 2018/19 und mit ihm gestaltete er ein reines Prokofjew-Programm.

Als Solistin beim Klavierkonzert Nr. 3 C-Dur op. 26 konnte Yulianna Avdeeva gewonnen werden, die 2010 (als vierte Frau) den Warschauer Chopin-Wettbewerb gewann. Wer dieses Konzert spielt, darf nicht zimperlich sein. Es erfordert einen zwar auch virtuosen, aber in erster Linie kraftvollen Zugriff. Der 1. Satz beginnt mit einer kurzen, lyrischen Einleitung durch die Klarinette, bevor es vehement losbricht. Die „nervösen“, aufgewühlten Passagen und dynamische Wechselbäder bestimmen hauptsächlich den Eindruck. Es gibt auch zarte, lyrische Anteile: Vor allem in 2. Satz Tema con variazoni kann Avdeeva mit verträumten Tönen bezaubern. Aber sie sind eher die Ausnahme. Yulianna Avdeeva zeigt sich der Breite ihrer Aufgabe voll gewachsen. Wie sie vehement „in die Tasten haut“, wie sie sich meist auch gegen die Klangfluten behauptet, die Currentzis entfacht, ist bewundernswert. Auch der 3. Satz gibt der Pianistin Gelegenheit zu virtuoser Brillanz. Hier wird die Nähe zu Tschaikowsky deutlich, wenn sich das Orchester in schwelgerischen Farben entfaltet. Solistin und Orchester steigern sich im furiosen Finale zu einem rauschhaften Abschluss. Grosse Begeisterung, für die sich Yulianna Avdeeva mit der Bourrée aus Bachs Suite Nr. 2 a-Moll bedankt.

Die Sinfonie Nr. 5 B-Dur op. 100 entstand 1944, also während des Zweiten Weltkrieges. Prokofjew schrieb später über dieses Werk, er habe versucht, „den Triumph des menschlichen Geistes“ zu vermitteln. Sie zeigt aber auch den Triumph seiner Meisterschaft der Orchesterbehandlung. Schon im Kopfsatz erklingt die Musik in einer Üppigkeit, als hätte Richard Strauss Pate gestanden. Das scheint Currentzis zu liegen, denn er lässt hier die Blechbläser schmettern, dass es eine wahre Freude ist. Und auch Pauke und Becken sind im Dauereinsatz. Der 2. Satz ist ein Allegro marcato, ein Scherzo, das Currentzis so lebhaft und markant abschnurren lässt, als wenn ein D-Zug immer wieder seine rasante Fahrt aufnehmen würde. Der langsame Satz, ein Adagio, ist ein gigantischer Trauermarsch, dessen tragische Tristesse Currentzis episch ausmusizieren lässt und in einem großen Spannungsbogen bis zum Bersten steigert. Die Streicher spielen hier eine entscheidende Rolle. Hoffnung (eben der beschworene „Triumph des menschlichen Geistes“) wird in dem sehr entspannt und im stetigen Fluss musizierten Finalsatz vermittelt, der sich aber am Ende orgiastisch steigert. Hier wird eine Brücke zum Beginn geschlagen. Teodor Currentzis dirigiert stets mit klarer Zeichengebung und vollem Körpereinsatz. Seine Bewegungen haben dabei schon choreographische Qualitäten. Die Zugabe, der Tanz der Ritter aus Romeo und Julia, bildet den Abschluss eines großartigen Konzertabends. (17.9.)

Eigentlich war der Prokofjew-Abend mit Teodor Currentzis das offizielle Abschlusskonzert des Musikfestes, aber mit dem Auftritt des Perkussionisten Martin Grubinger und seinem Percussive Planet Ensemble auf dem Marktplatz gab es noch eine Zugabe. Und ein Geschenk an die Bremer war es auch, denn der Eintritt war frei. Intendant Thomas Albert hat es sogar erreicht, dass für die Dauer des Konzerts keine Straßenbahnen am Marktplatz vorbeirasseln. Beste Voraussetzungen also für einen besonderen Abend in stimmungsvoller Atmosphäre.

Zur Aufführung kam das 1978 komponierte Werk Pléïades von Iannis Xenakis. Es ist ein Stück in vier Sätzen für sechs Schlagzeuger von 45 Minuten Dauer. Der Titel geht auf die Plejaden zurück, einen mit bloßem Auge sichtbaren Sternhaufen, der in der griechischen Mythologie für die sieben Töchter des Atlas und der Pleione steht. Da passt eine Aufführung unter freiem Himmel natürlich besonders gut.

Die sechs Musiker stehen aufgereiht nebeneinander auf der Bühne an ihren Instrumenten. Gespielt wird auf Marimbaphonen (sehen aus wie riesige Xylophone), auf Metallophonen, Schlagzeugen und Trommeln. Dabei dominiert in den einzelnen Sätzen jeweils ein anderes Instrument: Marimbaphone in „Claviers“, Trommeln in „Peaux“, metallische Instrumente in „Métaux“ und eine Mischung aus allen in „Mélangues“. Was Martin Grubinger und seine fünf Mitstreiter an Klängen, Rhythmen und Variationen hervorzaubern können, ist fast unglaublich. Die dynamische Spannweite reicht von fast unhörbar bis an die und über die Schmerzgrenze. Abrupte Wechsel gibt es da, auch verdichtete Klänge stehen unmittelbar neben Solo-Passagen. Wie sich die Synchronität fast unmerklich auflöst, um dann wieder zu einem geordneten Unisono zu finden, wird mit höchster Konzentration und Präzision ausgeführt. Mal flirren die Töne wie Vogelschwärme umher, mal klingt es wie ein Meer aus Glocken oder ein Wald aus tickenden Uhrwerken. Mal verschmelzen die Klänge, mal schießen sie einzeln und aggressiv hervor. Manchmal verdämmern die Klänge in großer Ruhe, um dann sofort wieder mit voller Kraft und in komplexen Rhythmen aufzutrumpfen. Die gesamte Darbietung ist von ungeheurer Intensität und geradezu hypnotischer Kraft geprägt. Kaum glaublich, aber nach diesem Kraftakt hatten die Musiker dennoch die Kondition für zwei Zugaben. Bei dem Finale aus „The Wave“, einem Concertino für Marimba und vier Schlagzeuge, werden noch einmal rhythmische Urgewalten entfesselt. Und ein augenzwinkernd servierter Ragtime krönt einen Abend der Sonderklasse. (18.9.)

Wolfgang Denker, 19.9.2021

Foto Cyrille Aimée von Colville Heskey
Foto Daniel Lozakovich von Johan Sandberg
Foto Marko Letonja von Marcus Meyer
Foto Teodor Currentzis und SWR Symphonierorchester von Moritz Metzger
Foto Yulianna Avdeeva von Christine Schneider
Foto Martin Grubinger von Simon Pauly