Ludwigshafen: „Siegfried“

Besuchte Aufführung: 25. 4. 2013 (Premiere in Ludwigshafen: 26. 10. 2012)

Muttersehnsucht mit Sigmund Freud

Vorhang auf zum Scherzo: Mit ungeheurer szenischer Verve und enormer innovativer Kraft ging mit „Siegfried“ die erste Gesamtpräsentation von Wagners „Ring“ im Pfalzbau Ludwigshafen in die dritte Runde. Und wie auch in den beiden vorangegangenen Teilen bewies Hansgünther Heyme auch hier, dass er einer der Besten seines Metiers ist. Mit großer Brillanz zog der in Personalunion als Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner fungierende Ludwigshafener Intendant wieder einmal alle Register seines umfassenden Könnens und wartete mit einem „Siegfried“ der Sonderklasse auf. Was er auf die Bühne brachte, war vielschichtig, abwechslungsreich, bildkräftig und vor allem sehr spannend. Die fesselnde Erzählung der Geschichte verbunden mit vielfältigen symbolischen, philosophischen und psychologischen Elementen ergeben eine großartige Symbiose, die den Zuschauer packt und ganz in seinen Bann zieht, wozu auch Heymes stringente Personenregie einen gehörigen Teil beiträgt. Bei aller Modernität der Interpretation ist deren geistige Essenz aber mehr dem Gedankengut Wagners entlehnt, als man auf den ersten Blick glauben mag. Aber solche Geniestreiche ist man von der Regielegende Heyme ja gewohnt.

Zentrale Bestandteile des Bühnenbildes sind wieder der bereits aus „Rheingold“ und „Walküre“ bekannte „Vorhang der Hoffnung“, auf dem Ernst Blochs These „Hoffnung hat einen Morgen für sich, der noch wiederkommt…“ prangt, sowie die „Wand des Todes“, die im zweiten Aufzug von den zwei bereits bekannten Boten des Todes um einen Tresor mit den Schuhen des von Siegfried getöteten, raffgierigen jüdischen Zimmermannes Fafner erweitert wird. Dem Schuhwerk seines Bruders Fasolt erging es am Schluss des Vorabends der Tetralogie nicht anders. Trotz der Modernität seiner Auffassung des Werkes lässt Heyme aber dennoch auch einige Accessoires konventioneller Produktionen in seine Deutung mit einfließen, so beispielsweise einen Amboss und einen Blasebalg. Sie befinden sich indes nicht in einer herkömmlichen Schmiede, sondern in Mimes hoch technisiertem Heizungskeller, in dem der intellektuelle Nibelung im Sträflingsanzug auf einer erhöhten Schaltzentrale sitzt, die ein Totenkopf ziert. Damit greift der Regisseur gekonnt Wagners ausgeprägte Skepsis gegenüber jedweder Technologie auf. Zeit seines Lebens übte der Bayreuther Meister scharfe Kritik an jeglichem wissenschaftlichem Fortschritt, der ihm nicht so recht geheuer war und der in diesem auf den ersten Blick unscheinbaren visuellen Zitat einen trefflichen Ausdruck findet. Im zweiten Aufzug arbeitet Heyme stark mit Prospekten, die das Zelt des vor Neidhöhle ausharrenden Alberich, aber auch den stilisierten Wald abbilden. Gewaltigen Eindruck hinterlässt die im Hintergrund aufragende, riesige rote – diese Farbe versinnbildlicht Blut und damit Gewalt und Tod – Tresorwand, in der der Hort aufbewahrt ist und die eine eindrucksvolle Variante der „Wand des Todes“ darstellt. Letztere bildet in mehrere Segmente zerlegt im dritten Aufzug den äußeren Rahmen für das Erwachen Brünnhildes auf einem blutigen Bett. Augenzwinkernd wird damit die anstehende Defloration der ehemaligen Walküre durch Siegfried vorweggenommen.

In diesem Ambiente ist es Wotan, der alle Fäden zieht und als sein eigener Regisseur die neue Hoffnung Siegfried inszeniert. Diesen setzt Heyme mit dem reinen Toren Parsifal gleich und wirft an seinem Beispiel die Frage auf, ob unsere moderne Gesellschaft überhaupt noch Helden benötigt, wie diese in unserer Mitte wirken und inwieweit sie dem heutigen Menschen als Vorbild dienen können. Für den Regisseur sind Helden keine abgehobenen Erscheinungen, sondern mutige Menschen wie Du und ich, die sich in den Verirrungen des Alltagslebens durch großen Mut und Zivilcourage auszeichnen. Die Lichtgestalt Siegfried kann in diesem Kontext ein Stauffenberg oder ein sonstiger Revolutionär sein, aber auch einen Taugenichts Eichendorff’scher Prägung oder einen Hero nach dem Vorbild Lessings darstellen. Dabei legt Heyme den Focus seiner Betrachtung nicht nur auf den Mut des Wotan-Enkels, sondern ebenso stark auf dessen Weltfremdheit und Realitätsflucht in den symbolischen Schoß der Mutter, womit wir bei Sigmund Freud angelangt wären.

Der psychologische Teil der Inszenierung ist Heyme dann auch über die Maßen gut gelungen. Gekonnt dringt er bis zum Grund der Seele seines Protagonisten vor, deren tiefste Schichten er mit psychoanalytischer Schärfe an die Oberfläche bringt und einer eingehenden Analyse unterzieht. Als Ausgangspunkt dient ihm das von Wotan manipulierte Waldvogel-Mädchen, das in doppelter Ausfertigung erscheint, auf dem Boden wandelnd und in den Lüften schwebend. Hier setzt die innere Handlung des Helden ein. Die Waldvogelmaid ist weniger körperlicher als vielmehr geistiger Natur und als Projektion der Sehnsucht Siegfrieds nach seiner Mutter Sieglinde zu verstehen. Wenn ihr der Regisseur auf dem Walkürenfelsen einen von Wagner nicht vorgesehenen Auftritt gönnt, erscheint sie dann auch in der Tat in der Maske und dem Outfit Sieglindes, was diese Auslegung bestätigt. Verzweifelt klammert sich Siegfried an sie. Sein – um es einmal mit Freud zu formulieren – angesichts des ihm noch unbekannten schlafenden weiblichen Wesens Brünnhilde nachhaltig in Angst und Schrecken verfallendes kindliches Ich flüchtet sich in den bergenden Schoß der Mutter und sucht bei deren behütendem Über-Ich Schutz. Indes huldigt Heyme hier nicht nur Sigmund Freud, sondern erweist auch Loriot seine Reverenz, wenn er augenzwinkernd Erinnerungen an dessen in „Wagners ‚Ring’ an einem Abend“ vorkommende Feststellung heraufbeschwört, dass sich Siegfried hier wie alle jungen Männer in dieser Situation verhalte, nämlich nach seiner Mutter schreie. Eine dritte Verkörperung erfährt der Piepmatz schließlich noch in einer kleinen Puppe, die Siegfrieds in Wahrheit durchaus noch kindliches Gemüt symbolisieren soll. Diese Deutung des Waldvogels mutet auf den ersten Blick sehr neu an, gründet in Wirklichkeit aber auf Wagners ursprünglichster eigener Interpretation, die er dann letztlich aber wieder verwarf. Im Prosaentwurf des Werkes von 1851 ist im Text des zweiten Aufzuges noch zu lesen: „Mich dünkt, meine Mutter hör ich singen!“. Auch in der ersten Fassung des Librettos befindet sich Wagner noch auf dieser Linie, wenn er Siegfried sagen lässt: „Mich dünkt, meine Mutter singt zu mir“, und diese Verse in der ersten Kompositionsskizze des Stückes sogar noch vertonte. Wer Otto Strobels „Die Entstehung des Ring“ gelesen hat oder das von Udo Bermbach im Jahre 2001 herausgegebene Buch „Alles ist nach seiner Art“ kennt, in dem Dieter Borchmeyer sich in seinem Essay “Siegfried“ mit genau dieser Thematik befasst, wird dieser Regieansatz Heymes, dem beide Bücher ganz offensichtlich sehr vertraut sind, nichts Neues mehr sein. Das ist wieder einmal ein Aspekt, der entgegen dem ersten Anschein durchaus nicht eine willkürliche Kreation des modernen Musik- oder auch Regietheaters, sondern vielmehr – weil auf den Bayreuther Meister selbst zurückgehend – ausgesprochen werktreuer Natur ist. Das am Ende über der Szene schwebende Weltenauge Wotans, das an die Stelle Erdas getreten ist, macht uns am Ende alle hellsichtig und schärft unseren Blick für die allumfassende Wahrheit des Mythos, dessen Essenz uns alle zu jeder Zeit betrifft.

Der in jeder Hinsicht überzeugenden szenischen Umsetzung durch Heyme entsprach die treffliche musikalische Auslotung der Handlung von GMD Karl-Heinz Steffens, der entsprechend dem Charakter des Werkes als heiterem Zwischenstück der „Ring“-Tragödie einen leichten Konversationston in zügigen Tempi pflegte und die beherzt aufspielende Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz zu einer schlanken, frischen und von großer Durchsichtigkeit geprägten Tongebung animierte

Den jungen Andreas Schager kann man schon augrund seines blendenden Aussehens und seines einfühlsamen Spiels als Idealbesetzung für den Siegfried ansehen. Wenn dann noch ein wunderbar frischer, bestens focussierter und durchschlagskräftiger Stimmklang dazukommt, könnte das Glück eigentlich vollkommen sein. Dass das an diesem Abend aber leider nicht der Fall war, lag an den zahlreichen textlichen und musikalischen Unsicherheiten des Tenors, der sich seine Rolle vor der Aufführung wohl nicht noch einmal angeschaut hatte und die sicher auch der Grund für einen Buhruf beim Schlussapplaus waren. Im ersten Aufzug geriet augrund eines verpassten Einsatzes des Titelhelden auch der über schönes lyrisches Material, aber noch über keine ausgereifte Körperstütze seiner Stimme verfügende Mime von Ralph Ertel ganz schön ins Schwimmen. Wenn es dem Sänger gelingt, besser im Körper zu singen, wird man von ihm noch einiges erwarten dürfen. Die Anlagen hat er, nur bedürfen diese noch weiterer Ausreifung. Mit herrlich sonorem, bestens italienisch geführtem Bariton stattete Gérard Kim den Wanderer aus. Ihm bot im zweiten Aufzug der hell timbrierte, ebenfalls bestens gestützt singende und mit einer perfekten Diktion gesegnete Gerd Vogel als Alberich auf beeindruckende Art und Weise Parole. An das hohe vokale Niveau seiner Kollegen vermochte der warm und ausdrucksstark singende Fafner Christoph Stegemann s nahtlos anzuknüpfen. Als Erda überzeugte mit gut profundiertem Mezzosopran Ceri Williams, die man noch von ihrer Zeit im benachbarten Mannheim in guter Erinnerung hatte. Lisa Livingston sang die Brünnhilde insgesamt angenehmer als noch in der „Walküre“. Indes lag die Tessitura der Rolle für sie zu hoch. Die große Anstrengung, die mit dieser unangenehmen Lage verbunden ist, dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass sie am Ende das abschließende hohe ‚c’ einfach wegließ. Dünn und leider nicht gerade gut im Körper zwitscherte Ines Lex den Waldvogel.

Ludwig Steinbach, 26. 4. 2013