Pforzheim: „Nabucco“

Besuchte Aufführung: 22.9.2015 (Premiere: 18.9.2015)

Vom Formalismus zum psychologischen Realismus

Ein künstlerisches Statement des gesamten neuen Leitungsteams des Pforzheimer Theaters stellt die Neuproduktion von Verdis „Nabucco“ dar. Hier war nicht nur ein Regisseur am Werk, sondern gleich vier. Intendant Thomas Münstermann hat zusammen mit seinen übrigen Spartendirektoren Caroline Stolz (Oper), Alexander May (Schauspiel) und Guido Markowitz (Ballett) Hand angelegt und eine überzeugende, klug durchdachte und gleichermaßen konventionelle wie moderne Elemente aufweisende Inszenierung geschaffen, für die Dirk Steffen Göpfert das dunkel ausgeleuchtete, nüchterne und zunehmend zeitgenössischer werdende Bühnenbild und Ruth Groß die im Lauf des Abends ebenfalls immer moderner werdenden Kostüme beisteuerten und die für jeden Geschmack etwas bereit hielt – ein guter Kompromiss, um weder traditionell noch zeitgenössisch eingestellte Gemüter bereits zu Beginn der neuen Spielzeit zu verstören. Der Erfolg gab ihnen Recht.

Chor, Extrachor und Kinderchor

Der Grundgedanke des Regieteams besteht darin, dass die Geschichte um die babylonische Gefangenschaft der Israeliten und die Hybris des Babylonierkönigs Nabucco eigentlich zeitlos ist. Politische Gefangene, Überheblichkeit von Herrschern, Machtgier und Eifersucht sind nicht an eine bestimmte Zeit gebunden, sondern treten in jeder Ära auf, sowohl in biblischen Zeiten wie heute. Das sind Themen, die immer aktuell bleiben und durchaus nicht an einen bestimmten Ort gebunden sind. Was Verdi hier abhandelt, kann überall verkommen. Dies wird vom Regieteam dadurch versinnbildlicht, dass es den stark im Zentrum der Handlung stehenden Chor gleich in vier Sprachen singen lässt: Italienisch, deutsch, hebräisch und persisch. Zuerst einmal wird auf diese Weise ein großes Gefälle zwischen Herrschenden und Beherrschten, Herren und Gefangenen deutlich. Diese gleichsam babylonische Sprachverwirrung soll gleichzeitig aber auch auf die derzeitigen vielfachen Krisenherde aufmerksam machen, zu denen neben Nahost in jüngster Zeit ja auch das von der Flüchtlingskrise heimgesuchte Deutschland gehört – ein intelligenter Schachzug der vier Regisseure, der deutlich macht, dass die politischen Krisen der Welt uns näher sind, als wir vielleicht wahrhaben wollen, und uns ganz schnell erreichen können.

Anna-Maria Kalesidis (Abigail), Ivan Krutikov (Nabucco)

Alle und jeder sind hier betroffen. Dieser Aspekt kommt in erster Linie beim Gefangenenchor „Va pensiero“ zum Ausdruck, für den sich das Regieteam einen echten Coup de Theatre hat einfallen lassen: Zuerst wird der erste Satz des Textes in verschiedenen Sprachen gesprochen. Dann folgt der Chor. Dieser setzt sich nicht nur aus dem Opernchor und Extrachor des Theaters Pforzheim zusammen. Auch zahlreiche Chöre aus der Region sind hier vertreten. Insgesamt sind es cirka 150 Sänger, die dieses bekannteste Stück aus Verdis Oper zu Gehör bringen. Und das tun sie nicht mal in Kostümen. Bevor sie loslegen, dürfen sie sich entkleiden und singen das Ganze dann in moderner Unterwäsche, während der Text zum besseren Verständnis auf einen Zwischenvorhang projiziert wird. Ganz ihr eigenes Wesen aufzeigend, das an nichts Äußeres gebunden ist, verteilen sich die Choristen über die ganze Bühne und den Zuschauerraum, der in Brecht’scher Art und Weise gekonnt in das Spiel einbezogen wird. Bravo!

Anna-Maria Kalesidis (Abigail)

Hier wurde ein echtes Gemeinschaftserlebnis in Szene gesetzt. Und auf einmal sind die Mitglieder des Chores zu Individuen mutiert. Aus dem Kollektiv des Anfangs sind nun unterscheidbare Personen geworden, die soeben einen Zeitsprung vollführt haben. Darin liegt, wie gesagt, die Zeitlosigkeit des Geschehens und der behandelten Konflikte begründet. Mit dem Wandel der Zeiten geht aber eine Änderung der Bewegungsqualitäten einher. Die stilisierten Bewegungen des Anfangs weichen im Lauf des Abends zunehmend einer mehr individualisierten Bewegungssprache, der zuerst gepflegte Formalismus weicht überzeugendem psychologischem Realismus.

Aleksandar Stefanoski (Zacharias) Chor

Dieser kommt in besonders starkem Maße in den zwischenmenschlichen Beziehungen zum Ausdruck, die vom Regieteam eindringlich herausgearbeitet werden. Hier wird der Fokus stark auf die innere Handlung gelegt, was dem Stück gut tut. Nachhaltig prallen die verschiedensten Emotionen aufeinander und erfährt die Personenregie eine einrucksvolle Intensivierung. Die Regisseure können mit Sängern umgehen, das muss man sagen. Ihre führende Hand wurde in erster Linie in den Wahnsinnszenen Nabuccos und den Auftritten der machthungrigen Abigail offenkundig, die im dritten Akt zwischen regelrechten Kleiderwänden auf einem leibhaftigen, glockenförmigen und ebenfalls mit Kostümen versehenen Turm von Babel sitzt. Hier wurde von den Sängern sehr intensiv und lebhaft agiert.

Ivan Krutikov (Nabucco), Anna-Maria Kalesidis (Abigail), Chor

Gesungen wurde dabei ganz phantastisch. Da hat Intendant Münstermann wahrlich ein fabelhaftes neues Ensemble für das kleine Theater Pforzheim gewonnen. Mit hellem, klangvollem und kultiviert geführtem nuancenreichem Bariton sang Ivan Krutikov einen eindringlichen Nabucco. Darstellerisch ganz groß zeigte sich Anna-Maria Kalesidis in der facettenreichen Aufzeigung der verschiedenen Befindlichkeiten der Abigail. Ihre extreme Machtgier, aber auch die große Verlustangst hat sie hervorragend vermittelt. Auch gesanglich war sie mit ihrem durch sämtliche Register gut fokussierten, flexiblen und koloraturgewandten Sopran sehr überzeugend. Ein vielleicht etwas zu sympathischer Zacharias, dessen ausgeprägter Fanatismus sich erst gegen Ende offenbarte, war Aleksandar Stefanoski, der seinem Part mit markantem, volltönendem Bass auch stimmlich voll gerecht wurde. An das hohe Niveau seiner Kollegen vermochte der den Ismael mit frischem, bestens verankertem und nuancenreichem Tenor singende Adam Sanchez nahtlos anzuknüpfen. Mit warmer, leichter und gut fundierter Tongebung stattete Danielle Rohr die Fenena aus. Und von Franziska Tiedtkes vollstimmiger Anna hätte man gerne mehr gehört. Solide gab Leandro Natalicio die Rolle des Hohen Priesters des Baal. Nur über dünnes Stimmmaterial verfügte dagegen der Abdallo von Steffen Fichtner. Ein Extralob gebührt den von Salome Tendies famos einstudierten Chören, die ihre Sache ganz ausgezeichnet machten.

Danielle Rohr (Fenena), Ivan Krutikov (Nabucco), Anna-Maria Kalesidis (Abigail)

Voll ins Zeug legten sich GMD Markus Huber und die prägnant und konzentriert aufspielende Badische Philharmonie Pforzheim. Da wurde mit ungeheurem Esprit, markant und mitreißend musiziert und auch mit schönen Differenzierungen aufgewartet. Die Abgrenzung von äußerst kraftvoll genommenen Passagen von mehr innig und schlicht anmutenden Stellen gelang vorbildlich. Fulminante musikalische Tableaus des gesamten Orchesters wechselten eindrucksvoll mit warmen, emotional angehauchten Phrasen. Darüber hinaus atmete Hubers eindringliches, von schöner Italianita geprägtes Dirigat großen Ausdrucksgehalt.

Fazit: Ein in jeder Beziehung exzellenter Auftakt der neuen Pforzheimer Ära. Der Besuch der Aufführung ist sehr zu empfehlen.

Ludwig Steinbach, 23.9.2015

Die Bilder stammen von Sabine Hayman