Pforzheim: „My Fair Lady“

Besuchte Aufführung: 8. 10. 2014 (Premiere: 4. 10. 2014)

Das Musical und seine Vorlage

Am 16. 10. 1913 kam am Wiener Hofburgtheater ein bemerkenswertes neues Stück heraus: „Pygmalion“, in dem George Bernard Shaw die moderne Adaption einer Episode aus dem 10. Buch von Ovids „Metamorphosen“ präsentierte. Geschildert wird die Geschichte des Professors Henry Higgins, einem selbstherrlichen Phonetiker, der sich zu einer Wette hinreißen lässt, dass er dem armen, mit einem grauslichen Akzent sprechenden Blumenmädchen Eliza Doolittle innerhalb kurzer Zeit eine perfekte Diktion sowie die Manieren des gehobenen Standes beibringen könnte. Er gewinnt seine Wette, sieht in seiner Schülerin aber nicht den Menschen, sondern nur das sprachliche Kunstwerk, das er geschaffen hat. Er „spielt mit einer lebendigen Puppe“, die er als sein Meisterstück begreift. Die Gefühle, die Eliza ihm entgegenbringt, ignoriert er und erachtet sie nicht als ihm gleichwertig. Er degradiert sie zum Objekt und spricht ihr jegliche Subjektivität ab. Da er sie am laufenden Band schlecht behandelt, verlässt sie ihn schließlich. Oder auch nicht?

Klaus Geber (Colonel Pickering), Marie-Kristin Schäfer (Eliza), Jon Geoffrey Goldsworthy (Professor Higgins)

Vom Schluss existieren mehrere Fassungen. In den meisten kann kein Zweifel daran bestehen, dass Eliza nach ihrem Weggang von Higgins den jungen Freddy Eynsford-Hill heiraten wird. Einzig die erste gedruckte Ausgabe des Stücks deutet noch ein Happy End und damit eine Ehe zwischen Higgins und Eliza an. Und gerade dieser versöhnliche Ausklang, von dem sich Shaw später ausdrücklich distanzierte, griffen Frederick Loewe und Alan J. Lerner für ihre Musical-Bearbeitung des Stoffes auf, der unter dem Titel „My Fair Lady“ Weltberühmtheit erlangen sollte. Die erfolgreiche Uraufführung erfolgte 1956 am Broadway. In Deutschland ist das Werk spätestens seit seiner erstmaligen Berliner Aufführung 1961 im Theater des Westens mit Paul Hubschmid und Karin Hübner in den Hauptrollen ein Kassenschlager geworden. Jetzt hat sich das Theater Pforzheim diesem überaus reizvollen Stück angenommen und in einer gelungenen Neuproduktion herausgebracht.

Angela Wollschläger (Lady Boxington), David Dietrich (Statist), Spencer Mason (Lord Boxington), Marie-Kristin Schäfer (Eliza), Heidemarie Brüny (Mrs. Higgins), Benjamin Savoie (Freddy Eynsford-Hill), Heidrun Schweda (Mrs. Eynsford-Hill)

Die herzlichen Ovationen, die beim Schlussapplaus des zahlreich erschienenen Publikums sämtlichen Beteiligten entgegenschlugen, zeugt von dem immer noch hohen Stellenwert, den „My Fair Lady“ innerhalb des Genres genießt. Würde es jemand als Musterbeispiel seiner Gattung bezeichnen, ließe sich dagegen nur schwer etwas einwenden. Die musikalischen Nummern wirken in keinster Weise angestaubt und sind so frisch wie am ersten Tag. Titel wie „Ich hätt’ getanzt heut nacht“, „Es grünt so grün“, „Ach wie oft ging ich“ und „Hei, heute morgen mach’ ich Hochzeit“ erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit, was auch an diesem Abend wieder offenkundig wurde. Und wenn dann auch noch ein so versierter Dirigent wie Tobias Lippert am Pult steht, der die famos aufspielende Badische Philharmonie Pforzheim bereits während des Vorspiels zu einer sehr markanten, feurigen, impulsiven und von großem Drive geprägten Tongebung zu animieren vermochte, kann nichts schief gehen. Im Laufe der Vorstellung wurde sein Dirigat immer biegsamer und flexibler und vermochte das Auditorium in hohem Maße mitzureißen. Ein typischer Musical-Dirigent scheint Lippert indes nicht zu sein. Die Art, wie er sich der Partitur näherte, hatte die Intensität und Bedeutungskraft, wie sie große Operetten-Pultmeister an den Tag legen. Ein Fehler war das aber sicher nicht. Noch dazu, weil das Stück an einigen Stellen deutliche Anklänge an die Operette aufwies. So beispielsweise bei dem Walzer auf dem Diplomatenball. Insgesamt waren Dirigent und Orchester an diesem Abend in Topform.

Jon Geoffrey Goldsworthy (Professor Higgins), Eliza, Katrin Rehberg (Mrs. Pearce), Klaus Geber (Colonel Pickering)

Stets Shaws „Pygmalion“-Vorlage vor Augen setzt David Gravenhorst die Handlung insgesamt ansprechend um. Nicht nur, dass das Bildnis des Autors Arbeitszimmer und Bibliothek von Professor Higgins ziert, auch das Schauspiel wird vom Regisseur immer wieder für seine Deutung herangezogen. Das ursprüngliche Musical-Libretto erfährt unter seiner Ägide mannigfaltige Ergänzungen durch gesprochene Auszüge aus dem „Pygmalion“-Original. Dieses Vorgehen hatte zwar den unerwünschten Nebeneffekt, dass dadurch die Musik an einigen Stellen etwas ins Hintertreffen geriet und sich der Focus oftmals verstärkt auf den Text richtete. Andererseits war damit aber auch eine im Gegensatz zu anderen Inszenierungen des Werkes viel prägnantere Herausarbeitung des geistigen Gehalts des Stoffes verbunden. Gravenhorst ging bei der Integrierung der literarischen Vorlage durchaus nicht willkürlich vor, sondern hat die aus ihr entlehnten Passagen mit Blick auf eine eindringlichere Beleuchtung der Handlungsträger sorgfältig und mit Bedacht ausgewählt. Dadurch wurde das Verständnis der Handlung nicht nur enorm gesteigert, sondern die gesamte Inszenierung auf ein ungleich höheres geistig-intellektuelles Niveau gehoben, als man es von sonstigen Aufführungen des Stückes her gewohnt ist. Ein Huldigung an Shaws Muttersprache dürfte es auch gewesen sein, dass der von der Regie sympathisch-unbeholfen gezeichnete Freddy sein erstes Lied in Deutsch begann, ab der Stelle „People stop and stare, they don’t bother me“ aber in die englische Originaldiktion verfiel, die er dann beim Singen auch größtenteils beibehielt. Nur das an Eliza gerichtete Gedicht im zweiten Akt gab er dann noch einmal auf Deutsch zum Besten. Diese Hommage an Shaw war trotz einiger daraus resultierenden szenischen Längen gelungen und zeugt von der Fachkunde des Regisseurs.

Jon Geoffrey Goldsworthy (Professor Higgins), Klaus Geber (Colonel Pickering), Eliza

Das Ganze spielt sich in einer von A. Christian Steioff, von dem auch die gelungenen Kostüme stammen, errichteten Guckkastenbühne ab. Um Gravenhorst eine saubere Herausarbeitung der Charaktere zu erleichtern, hat er sich bei der Ausstattung auf das Wesentlichste beschränkt. So wird das erste Bild nicht von dem Platz vor Covent Garden dominiert, sondern von einem nüchtern anmutenden, spärlich eingerichteten Raum mit einigen Straßenlaternen, einer Bank, einem kleinen Tischchen und Big Ben, das im zweiten Akt erneut erscheint, im Hintergrund. Eliza nennt ein modernes Fahrrad ihr Eigen, auf dem sie ihre Blumen transportiert. Im letzten Bild, das in Mrs. Higgins Behausung spielt, wird die Szene von einer Veranda und einer Schaukel eingenommen. Hier nimmt die Aufführung abweichend vom Textbuch, das für das Finale Higgins Haus vorsieht, auch ihr Ende. Eliza kommt stumm zu Higgins zurück und das Paar fällt sich in die Arme.

Jon Geoffrey Goldsworthy (Professor Higgins), Eliza

Marie-Kristin Schäfer strahlte in der Rolle der Eliza von Anfang an das Flair der späteren Dame aus. Eine Göre von der Straße war sie, weiß Gott, nicht. Man hat wahrlich insbesondere in der ersten Szene schon viel ordinärere Elizas erlebt. Stimmlich vermochte sie mit ihrem prächtigen, eine herrlich südländisch anmutende Schulung aufweisenden, weichen Mezzosopran an diesem Abend so manchen Höhepunkt zu setzen, so in erster Linie mit „Ich hätt’ getanzt heut Nacht“. Wer hat ihr aber nur geraten, an einigen Stellen bewusst vom Körper wegzugehen? Das ist sonst überhaupt nicht ihre Art. Neben ihr erbrachte als Professor Higgins der vom Sprechtheater kommende Jon Goldsworthy, der am Pforzheimer Theater vor 22 Jahren bereits den Freddy gesungen hatte, eine darstellerische Glanzleistung. Einfach köstlich, wie er den selbstverliebten, ruppigen Egomanen, der am Ende dann doch noch aufrichtige Gefühle an den Tag legt, verkörperte. Gesungen hat er, wie es Schauspieler eben tun. Das gilt auch für den sich lässig gebenden, aber mit allen Wassern gewaschenen Doolittle von Matthias Degen. Ein äußerlich recht charismatischer, immer noch über beträchtliche stimmliche Reserven verfügender Colonel Pickering war Klaus Geber. Von der darstellerischen Warte aus entsprach Benjamin Savoie dem Freddy voll und ganz, vermochte vokal mit seinem dünnen, kopfigen Tenor aber nicht zu überzeugen. Zu Recht hoch in der Gunst des Publikums stand auch die sich in perfektem Schweizer-Deutsch artikulierende Haushälterin Mrs. Pearce von Katrin Rehberg. Bestens auch Heidemarie Brüny als von ihrem Sohn offenbar gar nicht viel haltende Mrs. Higgins. Als Mrs. Eynsford-Hill war Heidrun Schweda zu erleben. Der Chor wurde von Salome Tendies einstudiert. Aus seiner Mitte wurden auch die vielen kleinen Rollen rekrutiert. Dazu gesellten sich im ersten Akt noch zwei junge Rad schlagende Akrobatinnen.

Fazit: Eine vergnügliche Aufführung, die viele interessante neue Aspekte aufwies und deren Besuch durchaus empfohlen werden kann.

Ludwig Steinbach, 10. 10. 2014

Die Bilder stammen von Sabine Haymann