Pforzheim: „Les Contes d’Hoffmann“

Premiere: 1. 3. 2014

Sternstunde des Musiktheaters

Es ist eine alte Theaterweisheit: Die Inszenierungen, die bei den Zuschauern auf heftige Ablehnung stoßen, sind oft die besten. Nicht anders verhält es sich bei der Neuproduktion von Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“, mit der das schon oft bewährte kleine Theater Pforzheim den Höhepunkt seiner Opernsaison erreicht hat. Die Buhrufe, mit denen sich Bettina Lell beim Schlussapplaus konfrontiert sah, sprechen in keinster Weise gegen sie. Vielmehr geben sie beredtes Zeugnis von den hohen Qualitäten dieser famosen Regisseurin, die ihr Handwerk in jeder Beziehung versteht. Ihre Interpretation des „Hoffmann“ stellt eine echte Sternstunde in Sachen hochkarätigen Musiktheaters dar, die nicht nur in die Annalen des Pforzheimer Theaters eingehen wird, sondern auch in der gesamten Rezeptionsgeschichte des Werkes einen vorderen Platz einnimmt. Es sind gerade solche seitens des Publikums zwiespältig aufgenommenen Inszenierungen, durch die ein Theater oder Opernhaus letztlich von sich reden macht und von nah und fern Neugierige anlockt. Auf diese Weise gewinnt es viel mehr Aufmerksamkeit als bei zwar freundlich beklatschten, letztlich aber mehr oder weniger belanglosen Produktionen. Diese Buhrufe, die im Theater Pforzheim eher die Ausnahme sind, werden diesem beachtenswerten Haus noch hohe Zinsen einbringen. Dieser „Hoffmann“ ist eine Produktion, zu der man pilgern wird.

Eric Fennell (Hoffmann), Tatiana Larina (Olympia), Steffe Fichtner (Spalanzani), Chor

Frau Lell hat das Werk gekonnt modernisiert und auf eine eindrucksvolle psychologische Schiene gehoben, wobei es gerade mannigfaltige Umdeutungen sind, die ihre Regiearbeit in hohem Maße interessant erscheinen lassen. Jeannine Cleemen und Moritz Weißkopf, von denen auch die gelungenen Kostüme stammen, haben ihr einen nüchtern anmutenden, dunkel ausgeleuchteten Einheitsraum auf die Bühne gestellt, dessen zentrales Element eine im Hintergrund aufragende riesige Hypnosescheibe bildet. Vor dieser wird Hoffmann im Laufe des Stücks einer immer intensiver werdenden Gehirnwäsche unterzogen und sein vom gnadenlosen Verfall bedrohtes Inneres wie ein offenes Buch vor den Augen des Auditoriums ausgebreitet. Dieses Instrument der Psychoanalyse ist gleichzeitig als Spiegel der Seele des etwas heruntergekommen wirkenden Dichters zu begreifen. Als Projektionsfläche seiner Befindlichkeiten reflektiert sie seine ständig zunehmende Einsamkeit. Wenn sie am Ende ihren Dienst versagt, wird deutlich, dass der Held mit seinem Spiegelbild auch seine Seele verloren hat. Der Teufel Lindorf, dem die mit zahlreichen Chordoubles versehene Stella bereits zu Beginn angehörte, hat auf der ganzen Linie den Sieg davongetragen.

Hans Gröning (Dapertutto), Tatiana Larina (Giulietta), Eric Fennell (Hoffmann), Marie-Kristin Schäfer (Muse)

An Stella hat die Regisseurin die einschneidendsten Veränderungen vorgenommen. Sie schildert auf einfühlsame Weise den Lebensweg ein und derselben Frau über mehrere Altersstufen. Bei Stellas sich über mehrere Jahre hin erstreckenden immer neuen Treffen mit Hoffmann werden ihr von ihm immer neue Namen gegeben. Zuerst nennt er sie Olympia, dann Antonia und am Schluss noch Giulietta. Diese ständig wechselnden Namen stehen jeweils für den neuen Anfang, den Hoffmann mit seiner Geliebten versuchen will. Mit Blick auf Frau Lells Konzept ist es nur konsequent, dass der stückimmanente Tod der drei Frauen hier nicht realer Natur ist, sondern jeweils als Erreichung eines neuen Entwicklungsstadiums Stellas aufzufassen ist -eine ausgezeichnete Idee. Als Olympia erscheint sie als biederer Teenager, der insoweit „Puppe“ ist, als ihr von ihrem Vater jedes Recht auf einen eigenen Willen abgesprochen wird. Hinter ihr anerzogenes automatenhaftes Wesen vermag der von Spalanzani als Bräutigam für seine Tochter ins Auge gefasste Hoffmann, der sich auf der Suche nach der idealen Frau befindet, aufgrund der ihm von Coppélius verpassten „rosaroten“ Brille zuerst nicht zu blicken. Erst als das Mädchen sich endlich seiner selbst bewusst wird und mit aller Kraft beginnt, gegen die fragwürdigen Erziehungsmethoden ihres Vaters aufzubegehren, werden dem Dichter schlagartig die Augen geöffnet. Mit dieser Emanze will er vorerst nichts mehr zu tun haben und macht sich aus dem Staub.

Eric Fennell (Hoffmann), Marie-Kristin Schäfer (Muse)

Wenige Jahre später trifft er sie in München wieder. Jetzt sieht Hoffmann auf einmal eine gereifte, ernstzunehmende junge Frau vor sich, die obendrein ein enormes Gesangstalent entwickelt hat. Kein Wunder, dass er sich erneut in sie verliebt. Im gemeinsamen Duett finden sie wieder zu ihrer alten Liebe. Hier leidet Antonia nicht an einer Krankheit, die ihr das Singen verbietet. Das tut vielmehr ihr Ersatzvater Crespel, der sie nach ihrer Flucht aus Spalanzanis Haus aufgenommen hat und sie nun nicht ebenfalls, wie bereits seine Frau, an eine Sängerinnenkarriere verlieren möchte. Wenn er dem Protagonisten die Lüge von Antonias todbringendem Leiden auftischt, ist das Ausfluss seiner großen Furcht, erneut von einer Frau, die er liebt, allein gelassen zu werden. Eine Hypnosebehandlung durch Dr. Mirakel, die Antonia von ihrem Wunsch, eine große Sopranistin zu werden, abbringen soll, scheitert. Wieder unbeirrt den Weg der Emanzipation betretend entscheidet sie sich gegen den Willen Crespels und Hoffmanns für eine Laufbahn als Sängerin. Nun ist sie es, die den Titelhelden verlässt. Als sie sich lange Zeit danach in Venedig erneut treffen, ist sie bereits eine gefeierte Sängerin und kann sich vor Verehrern kaum retten. Hoffmann kocht vor Eifersucht und bezeichnet Giulietta laut als Kurtisane, was bei ihr Rachegefühle auslöst. Während er ihr zunehmend wieder in echter Liebe verfällt, spielt sie in der Absicht, ihm seine Beleidigung heimzuzahlen, nur noch mit ihm. Schließlich lässt ihn seine ungezügelte Eifersucht zum Mörder an Schlémil werden. Mit dieser bösen Tat, die seinen Abstieg einleitet, verliert er sein symbolisches Spiegelbild und auch seine reine Seele. Er ist mit seiner Suche nach der idealen Frau endgültig gescheitert. Auch die sich abwendende Muse kann ihm nicht mehr helfen. Gänzlich aufgelöst verfällt der Dichter in Resignation. Einsam und „seelenlos“ bleibt er zurück, während der Gesang des Chores nur noch aus dem Off zu vernehmen ist. Die Aussicht Stella doch noch für sich gewinnen zu können, hat er für immer verloren. Das war alles ausgesprochen überzeugend und von Frau Lell mit hohem technischem Können und einer ausgefeilten, punkgenauen Personenregie spannend und stringent umgesetzt.

Aykan Aydin (Schlémil), Hans Gröning (Dapertutto), Eric Fennell (Hoffmann)

Gespielt wurde in Pforzheim eine Mischfassung, die vorwiegend auf den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die von Offenbach fragmentarisch hinterlassene Partitur beruht, andererseits aber auch beispielsweise die herrliche Diamantenarie mit einbezieht, die erwiesenermaßen gar kein Bestandteil der Oper ist. GMD Markus Huber sprach dann auch konsequenterweise von der Pforzheimer Fassung, die er zusammen mit dem versiert, konzentriert und klangschön aufspielenden Badischen Philharmonie Pforzheim mit Bravour vor den Ohren des begeisterten Publikums ausbreitete, das dann mit Applaus nicht geizte. Auch an diesem gelungenen Abend wurden die Vorzüge dieses hervorragenden Dirigenten, wieder offenkundig. Seine Fähigkeiten in Sachen impulsiven Spannungsaufbaus, melodischer Linienführung und Herausstellung spezifischer Coleurs bei ständig aufrechterhaltener Intensität des Orchesterklangs sind schon enorm. Und die Sänger trug er regelrecht auf Händen.

Antonia, Wilja Ernst-Mosuraitis (Antonias Mutter), Hans Gröning (Dr. Mirakel)

Bei diesen vermochte insbesondere Eric Fennell als Vertreter der Titelpartie zu begeistern. Dieser Tenor, der den Hoffmann als seine bisher beste Rolle bezeichnen kann, hat entwicklungstechnisch einen gewaltigen Sprung gemacht. Im Gegensatz zu so manch anderem Sänger, dem die langen, offenen Vokale der französischen Sprache gesanglich oft Schwierigkeiten bereiten, liegt ihm die französische Diktion nicht nur ausgesprochen gut, sondern wirkt sich zudem auch noch positiv auf den Klangcharakter seiner Stimme aus, die bei der Premiere phantastisch im Körper saß. Er sang durchweg kraftvoll, differenziert und recht emotional. Die Bravo-Rufe, mit denen er von den Zuschauern am Ende bedacht wurde, waren nur zu berechtigt. Eine gute Leistung ist auch Tatiana Larina zu bescheinigen, die mit ihrem bestens focussierten, in jeder Lage gleichermaßen gut ansprechenden Sopran die drei Frauenrollen hervorragend verkörperte. Die perlenden Koloraturen der Olympia wurden von ihr locker und flexibel bis in die höchsten Höhen hinauf gemeistert. Die Antonia stattete sie mit herrlich gefühlvollen Tönen aus und ließ es als Giulietta auch an einer gehörigen Prise vokaler Erotik nicht fehlen. Nicht ganz nachzuvollziehen war indes, warum man für Stellas stummen Auftritt zu Beginn die Schauspielerin Ingeborg Kaufmann bemühte. Die dämonischen Charaktere von Lindorf, Coppélius, Dr. Mirakel und Dapertutto machte Hans Gröning mit ausgeprägtem, diabolischem Spiel glaubhaft. Auch gesanglich vermochte er mit seinem vollen, runden Bariton gut zu gefallen. An das hohe Niveau ihrer Kollegen vermochte Marie-Kristin Schäfer, die die Doppelrolle der Muse und des Nicklausse mit ebenfalls tadellos sitzendem, substanzreichem und tiefgründig klingendem Mezzosopran erstklassig sang, nahtlos anzuknüpfen. Sonoren, italienisch fundierten Wohlklang verbreitete auch Wilja Ernst-Mosuraitis, bei der die kleine Partie von Antonias Mutter in besten Händen war. Sauber geführtes lyrisches Baritonmaterial brachte Aykan Aydin für den Hermann und den Schlémil mit. Nicht zu gefallen vermochte Edward Lee, der als Wilhelm, Cochenille, Frantz und Pitichinaccio mit einem ausgemacht flachen und oft grellen Tenor aufwartete. Dünn sang Steffen Fichtner den Nathanael und den Spalanzani. Lautstark, aber halsig präsentierte sich Cornelius Burger als Luther und Crespel. Ansprechend war der von Salome Tendies einstudierte Chor und Extrachor.

Fazit: Eine in jeder Hinsicht bemerkenswerte Aufführung, deren Besuch sehr zu empfehlen ist.

Ludwig Steinbach, 3. 3. 2014
Die Bilder stammen von Sabine Haymann.