Sankt Gallen: „La Bohème“

Vorstellung am 21.10.2017

Er gehört zweifelsohne zu den ergreifendsten Opernmomenten der gesamten Literatur, der Schluss von Puccinis LA BOHÈME, diese Szene, in der alle von Rodolfos Freunden wissen, dass Mimì ihr Leben ausgehaucht hat, nur Rodolfo nicht. Und wenn er es dann realisiert, seine Erschütterung und Verzweiflung musikalisch von Puccini so wirkungsvoll eingefangen wird, dann kann man sich auch nach gut zwei Dutzend erlebten BOHÈME – Aufführungen der emotionalen inneren Aufruhr, der Tränen kaum erwehren. Das war auch gestern Abend in St.Gallen der Fall – man spürte die Ergriffenheit des Premierenpublikums deutlich, der Schlussapplaus war erst relativ zurückhaltend steigerte sich dann jedoch allmählich zum Begeisterungssturm für alle Ausführenden. Er war aber auch berührend und bewegend inszeniert, dieser Moment, in dem die Gesangsstimmen und das Orchester schweigen und nur ein paar geflüsterte Sätze zu vernehmen sind, bevor sich dann die Musik ins Herz bohrt, begleitet von Rodolfos verzweifeltem, finalem Ausbruch. Das Inszenierungsteam Renaud Doucet (Regie) und André Barbe (Ausstattung) drehte nun durch die Einbettung der Geschichte um Rodolfo und Mimì in eine Rahmenhandlung einer an Krebs erkrankten jungen Frau aus der Gegenwart noch zusätzlich an dieser emotionalen Schraube.

Begonnen wird auf einem Marché des Puces in Paris in der Gegenwart, mit Touristen, einer schwarzen Strassensängerin und einer jungen Frau, welche durch die feil gebotenen Waren stöbert, ein antikes Grammophon entdeckt. Die ersten Takte aus LA BOHÈME erklingen aus dem Grammophon, die Frau (sie nimmt ihr Kopftuch ab, man sieht deutlich die Folgen der Chemotherapie) träumt sich in die Scènes de la vie de bohème hinein, sieht sich selbst in der Rolle der kranken Mimì. Das ist alles fantastisch gekonnt gemacht, dieser fliessende Übergang von der Gegenwart in die Vergangenheit. Der Regisseur und der Ausstatter verlegen die eigentliche Handlung der Oper ins Paris der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts, in die Zeit, in der viele Künstler und junge Menschen, welche nach dem ersten Weltkrieg nicht in ihre Heimatländer zurückzogen, sondern in Kontinentaleuropa blieben und insbesondere das aufregende und freizügige Leben in Paris geniessen wollten. Sie wurden von Gertrude Stein als „die verlorene Generation“ bezeichnet, Künstler und Schriftsteller wie Hemingway, T.S. Eliott, F.Scott Fitzgerald, Beckett, Joyce, Picasso, Braque, Giacometti (eine seiner Skulpturen war auch auf der Bühne zu sehen) u.v.a.m. gehörten zu dieser Gruppe. In diesem Setting nun entwickeln Doucet und Barbe mit einer Plastizität und Plausibilität sondergleichen die tragische Geschichte um Mimì und Rodolfo.

Dabei gelingt ihnen eine Personenführung von geradezu beispielhafter Intensität und Genauigkeit, da ist bis in die kleinsten Nebenfiguren und die Rollen der Menschen im Chor einfach alles mit einer überragenden Stimmigkeit und Detailgenauigkeit inszeniert, die von Beginn weg fesselt. (Es handelt sich um eine Koproduktion mit der Scottish Opera Glasgow, für die szenische Einstudierung in St.Gallen war Peter Lorenz verantwortlich.) Dem Theater St.Gallen ist es gelungen, die Rollen dieser jungen, ausgelassenen Künstler mit herausragenden, ihre Charaktere mit immenser Genauigkeit auslotenden Sängerinnen und Sängern zu besetzen. Ein solch intensiv turtelndes und bis über beide Ohren verliebtes Paar, wie es Sophia Brommer (Mimì) und Leonardo Capalbo (Rodolfo) darstellen, habe ich persönlich noch nie in den ersten zwei Bildern einer BOHÈME erlebt. Das Spiel dieser beiden ist von einer begeisternden Glaubwürdigkeit, genauso wie das aller anderen Protagonisten.

Vor allem David Stout als Marcello spielt den Maler umwerfend gut, die Achterbahn seiner Gefühle zu Musetta wunderbar transportierend, dabei immer der überbordende Spassmacher, vom Urinieren auf sein Gemälde von der Teilung des Roten Meeres (wobei das überhaupt nicht provozierend ist, sondern der Regisseur hat den Text einfach wortgetreu umgesetzt, Marcello „ersäuft“ den Pharao auf dem Bild …) bis zur ausgelassenen Gavotte, welche er zusammen mit Rodolfo im vierten Bild tanzt. Seine Musetta wird als Josephine Baker – Verschnitt dargestellt. Jeanine de Bique macht das überragend (sie interpretiert auch schon die Strassensängerin in der eingefügten Rahmenhandlung), spielt verführerisch und augenzwinkernd mit ihren Reizen in der Verführungsszene im zweiten Bild (ein table dance an der Stange eines Karusselpferdchens). Im dritten Bild streitet sie sich herrlich selbstbewusst mit dem eifersüchtigen Marcello und im letzten Bild ist sie die rührend besorgte Freundin der Mimì. Auch die beiden anderen Künstler dieser WG, Colline und Schaunard, erhalten durch Tomislav Lucic und David Maze prägnantes Profil. Doch die erwähnten Interpreten sind nicht nur überragende Darsteller, nein sie singen auch vortrefflich. Sophia Brommer begeistert mit ihren wunderbaren Piani und Diminuendi. Im ersten Bild klingt ihre Stimme im mezzoforte bis forte Bereich noch etwas kühl, doch dieser Eindruck legt sich zusehends und man erfreut sich an einer klug die dynamischen Bandbreiten auskostenden vokalen Interpretation.

Sehr gut passt der weich und samten ansetzende Tenor von Leonardo Capalbo als Rodolfo zu ihr, kein tenoral protzender Schluchzer-Held, sondern ein ehrlich und geradlinig singender junger Mann, mit wunderbarer Phrasierung und sicherer, unprätentiöser Höhe. David Stout als Marcello verfügt über einen satten, voluminösen und charaktervollen Bariton, bei ihm stimmt einfach alles, jede Regung des Gefühls findet ihren Ausdruck in der gesanglichen Umsetzung. Jeanine de Bique singt ihr Chanson im Vorspiel (vom Akkordeon begleitet) mit herrlich jazzigem Einschlag, den Walzer auf dem Karusselpferdchen mit einschmeichelnder, warmer Farbgebung und gekonnten Stakkati – Lachern und findet im Gebet im letzten Bild zu berührender Innigkeit. David Maze verleiht dem Schaunard durch viel Witz und Variabilität Gewicht und Tomislav Lucic als trotteliger Philosoph Colline nimmt bewegend Abschied von seinem alten Mantel. Paulo S.Medeiros füllt seine beiden Partien (als altersgeiler Vermieter Benoît und als reicher Verehrer Musettas, Alcindoro) mit komödiantischer Kunst überzeugend aus. Die Farbigkeit des zweiten Bildes wird durch den grossartig singenden und fantastisch agierenden Chor, Opernchor und Kinderchor des Theaters St.Gallen (Einstudierung: Michael Vogel) bereichert. Im Orchestergraben leuchten ebenfalls die wunderbaren Farbschattierungen der so kunstvoll instrumentierten Partitur Puccinis auf, welche der Dirigent Hermes Helfricht den Musikerinnen und Musikern des Sinfonieorchesters St.Gallen entlockt. Er versteht es, sowohl die emotionalen Momente als auch die humoristisch überbordenden Szenen mit durchdachter Agogik zu evozieren. Ein besonderes Lob gebührt dem Akkordeonspieler Raphael Brunner. Seine Variationen des Musetta-Walzers sind eine kleine Preziose in der Umbaupause zum Schlussbild. André Barbes Bühne und die Kostüme aus der Zeit der Zwanzigerjahre und der Gegenwart ergeben eine augenzwinkernde Postkartenkulisse einer Ecke im Quartier Latin, mit wunderbar stimmiger Flohmarktatmosphäre, die sich schnell in Künstler-WG, Kneipen-Szene und winterliche Zollschranke verändern lässt.

Der transparente Zwischenvorhang mit dem Blick über die Dächer der Grossstadt wird im vierten Bild mit frappanter Wirkung eingesetzt. Einzig der Beginn des dritten Bildes an der Zollschranke wollte sich mir szenisch nicht recht erschliessen: Da wurde man wieder kurz in die Gegenwart versetzt, mit Obdachlosen, Security – Männern, streikenden Milchbäuerinnen und einem Karl Lagerfeld, der mit zwei leicht bekleideten Models aus der heruntergekommenen Gaststätte an der Zollschranke kommt. Doch dieser Ausrutscher war dann zum Glück schnell vorbei, und das ergreifende Terzett Mimì – Rodolfo – Marcello, das sich dann mit der dazutretenden Musetta zum Quartett erweiterte, konnte seine volle Wirkung entfalten.

Am Ende stirbt Mimì auf dem Trödler – Sofa in der WG der Künstler, die Freunde und Musetta stehen trauernd vor dem Sofa, treten weg – doch da liegt niemand mehr, nur ein heller Scheinwerfer beleuchtet die Stelle, an der Mimì ihr Leben ausgehaucht hatte. Stark!

André Barbe und Renaud Doucet widmen diese Inszenierung „allen an Krebs erkrankten Menschen, die viel zu früh aufhören mussten zu träumen.“

Bilder (c) Theater St. Gallen