Annaberg-Buchholz: „Der Liebestrank“

Wer gerade in Annaberg die Sonderausstellung „Volkskunst trifft Volksfest“ besucht, bekommt ein paar Modelle zu sehen, die ihn stark an ein zentrales Bühnenelement erinnern, das Kristina Böcher auf die „Liebestrank“-Bühne gebaut hat. Sie finden sich auch in der „Manufaktur der Träume“, dieser reichen, zum Staunen anregenden Wundersammlung von Figuren, Puppen und Modellen für ein großes und kleines Publikum. Was wir also sehen, ist eine schräge Scheibe, die im zweiten Akt ihre wahre Bedeutung enthüllt. Nun nämlich dient sie als karusselartige Plattform, auf der sich die verschiedensten Symbole befinden: ein Holzpferd (für den hölzernen Belcore), ein Riesenglas mit Alkohol und Herzchen (es steht für den Wunderdoktor Dulcamara), zwei große Schachbrettfiguren: ein Bauer und eine Dame (keine Frage, wem sie gehören).

Die Liebe sei ein seltsames Spiel, sagt man. Nein, die Handlung des „Liebestranks“ spielt in der überaus gelungenen Inszenierung von Birgit Eckenweber nicht in einer Traumfabrik, sondern auf einer drehbaren Symbolbühne, auf der die Figuren sich einmal wie auf einem Schachbrett bewegen. Das Programmheft zitiert Paul Watzlawick, der mit der „Anleitung zum Unglücklichsein“ eine beeindruckende Kommunikationsstudie schrieb. Watzlawick zitierte damals den Psychologen Alan Watts, wonach das Leben ein Spiel sei, dessen erste Spielregel laute, dass das Spiel kein Spiel, sondern todernst sei. Und so begegnen uns Nemorino und Adina, Belcore und Dulcamara auf einer Bühne, auf der der sinnigerweise zitierte Tristan-Akkord seinen guten Platz hat: denn hier geht es wahrlich ums sog. Eingemachte. Adina also schaut – anders, als Nemorino es wahrhaben will – durchaus interessiert auf den jungen Mann, als sie so tut, als lese sie die Geschichte von Tristan und Isolde; ertappt, dreht sie geschwind das umgekehrt gehaltene Buch um (das sind so Details einer genauen Regie). Am Ende wird sie sich selbst überwinden, indem sie ihre Kruste durchbricht, mit der sie sich immer vor der Liebe schützen zu müssen glaubte. Das Wunder der Verwandlung (wie Hofmannsthal das genannt hätte) geht freilich unter Schmerzen vor sich; ergreifender Höhepunkt dieser zunächst als „farsa“ angelegten Dorfkomödie ist die Umarmung, mit der sich Adina schließlich zu Nemorino bekennt. Wer hören konnte, hat es vorher schon gewusst, denn hinter der scheinbar kapriziösen Adina verbarg sich schon immer eine tief empfindende Frau, die den Belcore – was für ein Name für diesen brutalen Don Juan des Krieges! – hasst, weil dieser nichts anderes kann als mit der Waffe in der Hand auf Einschüchterung und Überrumpelung zu setzen. Allein er schafft es nicht, Adina wirklich davon zu überzeugen, dass er, der Großsprecher, der Richtige für sie sei. Sie spielt lieber die Eva, die ihrem Adam namens Nemorino seinen angebissenen Apfel bewusst zurückgibt. Und fast würden sie sich schon sogleich küssen – würde nicht Belcore die Szene stören.

Nichts in Text und Musik spricht gegen diese Deutung der beiden jungen Leute – und weit entfernt ist die (mögliche) Vermutung, dass Adina am Anfang dieser Geschichte beziehungsgestört sei, weil sie es (angeblich) liebt, von Mann zu Mann zu hüpfen. Stimmt nicht: Donizettis Musik behauptet, bei allen buffonesken Tönen, die auch Adina gehören, das Gegenteil. Es ist nur eine Kunst, Adina von Anfang an als jene Frau zu zeigen, als die sie am Ende – wie gesagt: unter den Schmerzen der Verwandlung – erscheint. Hier ist es Madelaine Vogt, die die Pächterin mit ihrem hohen Soubretten-Sopran und körperlichem Einsatz munter zeichnet, wobei sie leider nur die hohen Töne regelmäßig von unten anschleift. Was für sie spricht, sind ihr heller Ton und ihr unbedingtes Spiel, mit der sie aus der Figur, die leicht zum Klischee einer „typischen“ Widerspenstigen werden könnte (wären da nicht ihre frühen zarten Töne gegen den noch nicht bekannten Geliebten und das 1. Finale), bei allem Symbolismus dieser Inszenierung einen wirklichen Menschen macht.

Und Dulcamara? Er ist in dieser hintergründigen, dabei „nur“ die Charaktere genau auslotenden Inszenierung so etwas wie ein gefallener Engel und lustiger Doktor Diabolus, der stets das Böse will und doch das Gute schafft, zwischendurch auch einige seiner schwarzen Federn verliert, wenn er nicht gerade seinen Rollkoffer öffnet, in dem sich nichts weiter verbirgt als ein Kühlschrank mit seinen grünen Flaschen. Kein Wunder, dass schon seine Schuhe – glitzernde Snickers mit einer Leuchtsohle – golden glänzen… László Varga macht das zum gesteigerten Vergnügen des Publikums.

Mit dem Nemorino des Jason Lee hat die Inszenierung einen lyrischen Tenor zur Verfügung, der dem leidenden wie übermütigen naiven und sympathischen jungen Mann eine schön timbrierte Stimme und schlanke Statur gibt. „Una futriva lagrima“, die Romanze, die hier als einziges Stück in Italienisch gesungen wird, wird zur empfindsamen Gefühlsäußerung: im Angesicht der (Schach-)Dame. Neben ihm steht mit Jason-Nandor Tomory ein vokal vergleichsweise grobkörniger Sergeant, der es eher liebt, die „Liebe“ mit Gewalt zu erzwingen als durch Zartheit zu glänzen. Beifall auch für die Wurzen der Gianetta (Bridgette Brothers, auch sie mit Tracht und ruralen Gummistiefeln ausgerüstet, macht das durchaus nicht wurzenhaft) – und für den Chor des Eduard-von-Winterstein-Theaters, der auch diesmal durch Mitglieder der Freien Chorvereinigung Coruso und einem Extrachor verstärkt wurde. Und spielen können sie auch: wunderbar, wie sie den Quacksalber als äußerst energetische Gruppe umringen (Her mit dem Wundermittel!); die Regie schafft es sowieso immer wieder, optisch interessante Gruppen zu bilden. Und stehen sie einmal, wie im ersten Finale, an der Rampe, hat es seinen guten Sinn: weil der emotionale Siedepunkt des ersten Akts, in dem die Musik plötzlich wie bester Verdi klingt, auch dann gespielt werden kann, wenn die aufgereihten Solisten wissen, was sie da warum singen. Die Musik ist an dieser Stelle klüger als der Text, in dem es angeblich um Adinas Plan geht, Nemorino zu besiegen. In Wahrheit geht es bei Adina (unterschwellig??) darum, den Hass auf den schrecklichen Belcore, nicht den Heiratsplan gegen Nemorino in Worte zu bringen; allein man muss es hören und „nur“ danach inszenieren. Völlig unabhängig davon, was sich die Librettisten 1832 unter weiblicher Verschlagenheit vorstellten, denn der Ton macht die Musik, nicht das Wort.

Das Haus ist klein, nicht mehr als 320 Plätze können hier besetzt werden, aber im Orchestergraben haben an diesem Abend 35 Musiker der Erzgebirgischen Philharmonie Aue relativ viel Platz. Unter dem GMD Naoki Takahashi spielen sie einen mal robusten (Donizetti liebte die Tutti-Effekte) wie subtilen Klang heraus. Es ist im Übrigen ein kleines Wunder, dass eine Belcanto-Oper wie Donizettis „Liebestrank“ an diesem kleinen Haus – nur mit Chorgästen ergänzt – mit lediglich acht festangestellten Solisten auf einem guten musikalischen Niveau aufgeführt werden kann. Ebenso erstaunlich ist die Tatsache, dass hier mit Birgit Eckenweber zum wiederholten Mal eine Regisseurin am Regiepult steht, die die großen Werke – unvergesslich ihre psychologisch ungewöhnlich überzeugende „Così“ und ihre poetische „Boheme“- in der sog. Provinz ohne Mätzchen, aber mit interpretatorischen Verstand und poetischer Freiheit als psychologisches und zugleich spielerisches Theater auf die Bühne zu bringen vermag. So gesehen, sind schon die fünf Luftballons, die über der Bühne schweben, beides zugleich: eine poetische Metapher und die Andeutung eines Spielraums.

Starker Beifall für Sänger, Musiker und die „Schwarzen“: zurecht, denn wieder einmal hat das „kleine“ Theater in Annaberg-Buchholz gutes, spielfreudiges und erstaunlich intelligentes Musiktheater gezeigt, das den Opernfreund keinesfalls unterfordert, nachhaltig anregt – und vielleicht beim Besuch des nunmehr genau 500 Jahre alten Annaberger Volksfests namens „Kät“ über das Spiel des Lebens nachdenken lässt.

Frank Piontek, 20.1. 2020

Fotos: ©Dirk Rückschloß/BUR Werbung