Annaberg-Buchholz: „Kiss Me, Kate“

Vokalstark und sexy

Als sich im Jahre 1948 erstmals der Vorhang über dem Musical „Kiss me, Kate“ hob, ahnte keiner der Beteiligten, dass die Shakespeare-Adaption einmal die 1000er-Marke knacken würde – was nur wenigen klassischen Broadway-Musicals gelang. Das Werk gilt heute als einer der Meilenstein der Gattung Musical – und als Hauptwerk Cole Porters, der in der Zeit, als das unsterbliche Duo Rodgers & Hammerstein bereits das Musical neu erfunden hatte, seine eigene Sprache beibehielt und ein unverwechselbares Werk schuf.

Als sich im kleinen Eduard-von-Winterstein-Theater im erzgebirgischen Annaberg-Buchholz der Vorhang über der letzten Nummer, dem zweiten Finale, schloss, war der Beifall gewaltig. Er war schon vorher stark: ausnahmslos nach jeder Nummer. Um den Erfolg einer derartigen Produktion in einem 320-Stühle-Haus recht einzuschätzen, muss der Zuschauer sich erst einmal über die Bedingungen klar werden – in einem Haus, das über kein eigenes Ballett und über einen kleinen Orchester-graben, aber über ein höchst motiviertes Ensemble verfügt. Vergessen werden darf auch nicht, dass Cole Porter und das Librettistenduo Bella und Sam Spewack dreierlei in Einem fordern: gute Sänger, gewandte Schau-spieler und elegante Tänzer. Wurden der Chor extraverstärkt und die von Alexandre Tourinho choreographierten, schönen und charakteristischen Tanzeinlagen des Tanzcorps von halben Laien gestaltet („Too Darn Hot“ ist einfach klasse), so konnten die Sänger des Hauses beweisen, dass sie auch bei Shakespeare nachgeschlagen haben (wer auch immer sich hinter diesem Namen verbirgt; ich tippe, wie die intelligentere Mehrheit, auf Edward de Vere, den Earl of Oxford).

Natürlich bringt man auch in Annaberg das Stück auf deutsch, wie es dort gute Tradition ist – denn ansonsten hätte die Intendanz Schwierigkeiten, größere Zuschauermengen ins Haus zu ziehen. Es macht Spa0, dem allen zuzuschauen und zuzuhören. Erstaunlich schon die Besetzung der Lilli Vanessi (ach, denkt sich der nostalgische Kritiker, was waren das noch für Zeiten, wo man ungestraft derartige Namen verteilen konnte): Therese Fauser liefert einen fulminanten Annaberger Einstieg. Die Nürnberger haben sie vielleicht noch als Mitglied des Opernstudios in Erinnerung, wo sie als Candida in Donizettis „Emilia di Liverpool“ brillierte, auch als Isabella in der Kinderoper „Kaimakan und Papatatschi“ nach Rossinis „Italienerin in Algier“. Wie sie gegenüber ihrem Ex die liebebedürftige Diva gibt, mag so „unrealistisch“ sein wie manches bei „Shakespeare“ – das Musical beglaubigt mit seinem operettenhaften Hang zum happy end auch den größten Unsinn, wenn hervorragend singende und bewegt spielende Akteure auf der Bühne stehen.

Michael Junge spielt diesen Ex: als Rauhbein mit Herz und kräftigem Organ. Jason-Nandor Tomory ist einer der vielen Annaberger Publikumslieblinge; kein Wunder: bei dieser butterweichen, starken Stimme. Mit Kerstin Maus (als Lois Lane, nicht zu verwechseln mit Supermans Freundin) entzückt sie vokalstark und sexy das Publikum. Die beiden „clowns“ (wie es bei „Shakespeare“ gewöhnlich heißt) sind zwei Gangster, die von Leander de Marel und Matthias Stephan Hildebrandt komisch, aber nicht exaltiert gespielt werden, so das die Erinnerung an Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller – die diese Rollen im deutschen Sprachraum unsterblich machten – erst gar nicht aufkommt. Marcus Sandmann und Frank Unger spielen die drei Freier der Bianca: zwei „kleine“ Rollen, die in Annaberg gut besetzt werden können.

Wo das Experimentelle auf der kleinen Bühne, vor dem spezifischen Annaberger Publikum, in Grenzen bleiben muss, ist Fantasie gefragt – der Raum, den Francesca Ciola entworfen hat, kommt mit ein paar wenigen Elementen aus: zwei fahrbaren Garderobenspiegelrahmen, die wie große Bilderrahmen aussehen, einer Hängegarderobe und einem nach Mustern der 30er Jahre gemalten Prospekt. Die Regie hat sauber gearbeitet; die Dialoge kommen geradlinig und detailliert, die Drehbühne wird effektvoll bedient, das Publikum amüsiert sich. Wieder wird es poetisch: wenn maskierte Gestalten den Karneval des Geschlecherkampfes begleiten und ein entzückender blauer, ausgesprochen weiblicher Esel (nur das Hinterteil gehört dem Männchen) auf die Eselhaftigkeit der Liebeswelt zu verweisen scheint. So zieht die Regisseurin wieder eine zarte Ebene mehr ein in ein Spiel, das in seiner Grundform von herzhaften Brutalitäten nicht frei ist.

Das Orchester, die Erzgebirgische Philharmonie Aue, spielt unter der sicheren Leitung Dieter Klugs Cole Porters Meisterpartitur in der Fassung von Don Sebesky, die 1999 am Broadway uraufgeführt wurde; sie klingt nur ein wenig moderner als die Fassung der 50er Jahre, aber modern genug, um das Publikum am Ende jubeln zu lassen.

Über 1000 Vorstellungen werden es im Erzgebirge nicht werden – aber zu einer längeren ausverkauften Serie sollte es reichen.

Frank Piontek