Annaberg-Buchholz: „La Bohème“

Schönes aus einem „kleinen“ Haus

Das Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz, im tiefsten Erzgebirge gelegen, gehört unter den den 80 deutschen Opernhäusern nicht zu denen, die regelmäßig im Zenit der überregionalen Presse stehen. Mit seinen kaum mehr als 300 Sitzplätzen bedient es vor allem die Interessen der örtlichen Bevölkerung einer Stadt und Umgebung, die aufgrund der reichen Silbervorkommen vor 300 bis 500 Jahren ihre große Zeit hatte, als der Ort die zweitgrößte sächsische Stadt war. Heute kommen die Touristen nicht nach Annaberg, weil hier ein gut gemachtes Adam-Ries-Museum und eine Oper stehen, sondern weil die „Manufaktur der Träume“ alljährlich viele tausend Besucher aus aller Welt anlockt.

Copyright aller Produktionsbilder: Winterstein-Theater

Trotzdem ist es erstaunlich, dass an einem derartig kleinen Haus eine Oper wie „La Bohème“ nicht nur komplett, sondern auch hoch achtbar mit reinen Hauskräften besetzt werden kann. Unter Intendant Ingolf Huhn und dem Generalmusikdirektor Naoshi Takahashi hat sich hier in den letzten Jahren eine Opernkultur entwickelt, auf die man andernorts vielleicht mit Neid blicken kann – es gelingt selbst größeren Häusern nicht immer, eine „Bohème“ ohne den Einsatz von Gästen zu stemmen. Dabei fallen nicht nur die beiden Hauptrollen ins Gewicht: Frank Unger ist ein Rodolfo, dessen sauberer, sich am Abend steigernder Tenor noch Schöneres ahnen lässt.

Auch Bettina Grothkopf dürfte zu jenen Sängerinnen gehören, deren Weg einmal an größere Häuser führen wird. Wer schließlich den jungen Jason-Nandor Tomory als Marcello hört, glaubt sich in ein „bedeutendes“ Haus versetzt – und unbedeutend ist kein Haus, das mit weiteren guten Namen wie Madelaine Vogt (Musetta), Michael Junge (Schaunard) und László Varga (Colline) aufwarten kann. Kommt hinzu die Erzgebirgische Philharmonie Aue, die unter dem GMD einen lyrischen wie schneidigen Puccini heraus spielt, wie er dem schlackenlosen Drama angemessen ist.
Dem Werk angemessen ist auch die Regiearbeit Birgit Eckenwebers, die die Welt der Bohème nicht neu erfinden muss, um zu eigenständigen szenischen Ideen zu finden. Sie lässt – im Bühnenbild Wolfgang Clausnitzers – die Bohèmiens von gestern und heute in einem leicht ruinierten Einheitsraum spielen, träumen und leben.

Selbst der sonst als komische Figur strandende Alcindoro behält seine Würde als elegantes Grauhaar im Stil des alternden Marcello Mastroianni. Diese „Bohème“ ist realistisch, wo sie die Konflikte der „kleinen Leute“ mit Liebe zeichnet, aber sie besitzt auch eine poetische Ebene, die durch eine neu erfundene Figur im Kunst-Raum eingezogen wurde. Aus dem Spielzeugverkäufer Parpignol, der inmitten des zirkushaften Treibens im zweiten Akt sein Debüt hat, wurde eine unheimliche wie heimlich traurige, venezianische Maskenfigur. Sie erscheint immer wieder bei den Bohèmiens: als Wächterin an der „Schranke der Hölle“, als Sterbegleiterin, als eine Figur, die von einem Dichter namens Rodolfo hätte erfunden werden können. Starker Beifall für ein insgesamt homogenes Ensemble und eine unaffektierte, doch bildbewusste und figurengetreue Regiearbeit.

Frank Piontek