Berlin: „Der Diktator“

„Das iss ja ganz winzig.“ „Ja, eingedampft“. Der kleine Dialog, den der Besucher aus der zweiten Reihe des Studios der Neuköllner Oper hören konnte, zielte natürlich auf die äußere Form der Bearbeitung und die Kleinheit des Aufführungsraums, in dem außer den 44 Sitzplätzen lediglich ein paar Quadratmeter zur Verfügung stehen, um Ernst Kreneks „Der Diktator“ in Szene zu setzen und in einer Triobesetzung zu musizieren. „Das iss ja ganz winzig“ – man würde es gern auf den „Diktator“ und all diejenigen beziehen, die zur Zeit in der Welt für Unheil sorgen: die Trumps, Erdogans und Orbans, die Diktatoren, denen ein Großteil der Bevölkerungen auf den Leim geht. Ähnliches wird im Einakter verhandelt: denn es ist gar nicht so leicht, einen Mann zu erschießen, der einen enttäuscht hat, und der nun (erfolgreich!) allen Charme aufwendet, um die Kugel von sich abzuwenden.

Worum geht’s? Barbara Zuber hat im Münchner Programmheft einer der ganz wenigen Inszenierungen der letzten Jahre die knappe Handlung knapp zusammengefasst: „Es handelt sich um die Fehde einer jungen Frau namens Maria, die ihren Ehemann, einen durch eine Kriegsverletzung erblindeten Offizier, rächen und den allein an seinem Unglück schuldigen Diktator töten will, von diesem jedoch verführt wird. Am Ende hat sich alles umgekehrt. Als Charlotte, die eifersüchtige Gattin des Potentaten, ihren Mann erschießen will, wirft sich Maria dazwischen und stirbt anstelle des Diktators.“ Krenek hat Ende der Zwanziger Jahre einen konkreten Diktator vor Augen gehabt: den Duce, also Benito Mussolini. Der Diktator der Inszenierung von Ariane Kareev tritt in einem (von Julia Denzel entworfenen) Kostüm auf, das ein bisschen futuristisch anmutet, freilich auch an die Zukunftsvisionen, die in der Entstehungszeit des ersten der drei als Einheit konzipierten Einakter en vogue waren. Dem Programmheftchen liegt nicht zufällig ein Einlegeblatt mit einem Ausschnitt aus Marinettis Manifest des Futurismus bei. Zukunft aber scheint immer zu sein, wo die Gegenwart und die Verführungskraft durch den Populismus – dies das eingestandene Grundthema der Inszenierung – so übermächtig sind. Scheinhaft aber sind schon die blauweißen, wie von Wolkennebeln durchzogenen Bänder, die sich von der Bühne in den Zuschauerraum ziehen. Der Bühnenentwurf Lina O. Nguyens suggeriert eine Idylle, die seinerzeit nicht einmal mehr in der Schweiz zuhause war, in der der bezeichnenderweise namenlose Diktator mit seiner gleichsam gelind futuristisch gewandeten Gattin Urlaub macht.

Überhaupt die Farben: Maria ist ein weißrotes Mädchen, Ring in der Nase, knallrote durchsichtige Plastikschirmmütze, ihr Mann eine dunkle Elendsgestalt. Versteht man den Text, den sich Krenek selbst zurechtschrieb, nicht genau, könnte man den Einakter für eine relativ banale Geschichte, ja: „eine blutige Mordgeschichte aus dem Leben eines Diktators“ (wie Krenek schrieb) halten: eine scheinbare Liebes- und Totschlaggeschichte im Quadrat. Tatsächlich liegt der Sinn etwas tiefer.

Der Politgaukler benutzt die Gewalt zur Sättigung eigener Lüste, was unbedeutend wäre, würden sich damit nicht die Schicksale ganzer Völker verbinden. Des Diktators „Ethos“ – nennen wir es so – schwankt zwischen Nihilismus, Größenwahn und einem falsch verstandenen Heroismus: „Gewalt reizt Gewalt, und die stärkere siegt. Das Gesetz meines Lebens und meiner Einsamkeit. Gefahr zu suchen und zu bändigen. Großes zu bewegen und den Menschen meinen Willen aufzuzwingen.“ Musikalisch entlädt sich diese Sprache in auffahrenden Gesten, in den Duetten mag ein pardierter Puccini nicht fern sein, eine angedeutete Atonalität verschrägt das Ganze, nicht allein am Ende triumphiert die Dissonanz. Wie gesagt: Wenn der Zuhörer alles verstünde… denn hier steht es schlecht. Da insbesondere beim Diktator, also Lawrence Halksworth, die Verständlichkeit gegen Null tendiert, auch die anderen Protagonisten, wenn sie im kleinen Raum dynamisch überdrehen, das Verständliche in irgendeinen Hallraum gerät, nimmt das tiefere Interesse an den wahren Konflikten beim Zuschauer, der es genau wissen will, vermutlich schon bald ab. Kommen hinzu die Texte, mit denen die Produktion die nur 26 Minuten lange Originaloper mit und ohne Musik angereichert hat. Etliches bleibt ein Rätsel: Soll das Lyrik sein? Ist es Dokumentartheater? Was will man uns sagen? Man ahnt es mehr als dass man es aus dem Mund der Protagonisten erführe, die sich doch mit vollem körperlichen und vokalen Einsatz in die gewiss verdienstvolle, politisch relevante Angelegenheit werfen. Wenn Eva Maria Nikolaus, die Charlotte des Abends, einmal mit dem falschen Fuß auf dem Boden aufkommt, weil sie die Schräge der herabgelassenen Wippe unterschätzt hat, die Sängerin aber unverdrossen weitersingt, als sei nichts geschehen, erschrickt man einen Moment. Wie gesagt: Voller Einsatz, auch bei der Maria der Isabel Reinhard, die sich einmal in einen seltsamen Pas de deux mit ihrem kranken Offizier begibt. Auch Sotiris Charalampous singt ansprechend, aber am besten in Ausdruck und Stimmgeschmeidgkeit fand ich doch die Diktatorenfrau. Soviel Verführung (des Rezensenten) muss schließlich sein.

Aber die Sprache… Nur zu Beginn des Abends hört man genau, worum es geht: „Du bist der, der mich streichelt. Du bist der, der mir sagt, was ich kann. Der, der mich schlägt. Den ich liebe. Den ich hasse. Der schreit und flüstert. Du bist der, der mir sagt, wer ich bin!“ Der Rest ist ein Spiel zwischen Oben und Unten. Steht der Diktator zumeist oben, so gerät er nur kurz ins Schlingern, als er, nun auf der frei schwingenden Wippe, sein Leben durch einen Verführungstrick zu retten vermag. Was unten kreucht, ist dem Tod, zumindest der Blindheit anheimgegeben, denn die Attentäterin stirbt weniger an der Kugel der (aus falschen Gründen eifersüchtigen) Ehefrau als an ihrer Verführung. Am Ende aber sitzt die Diktatorenfrau an höchster Stelle: quasi auf dem Thron, den ihr die Bühnenbildnerin gebaut hat, und zu dem man nur über die Treppe in irgendein wolkenweisses/blaues Himmelreich zu gelangen vermag. „Ich habe Angst!“ – dies aber ist das letzte Wort des Werks, gesungen vom Invaliden.

In der Tat: Krenek erwies sich schon sieben Jahre vor 1933 als Prophet, wenn er auch nicht ahnen konnte, was nach der Machtergreifung Mussolinis, der zunächst gemeint war, auf die Deutschen und den Rest der Welt zukommen sollte. Um diese Botschaft zu verschärfen, hat der Dramaturg Justus Rothlaender zusammen mit dem musikalischen Bearbeiter Jörg Gollasch eine Fassung erstellt, die mit einem Klavier (Walewein Witten – der Name kommt nicht einmal bei Siegfried Wagner vor…), einem Violoncello (Maria Franz) und einem Schlagwerk (Jan-Einar Groh) auskommt. Die integrierten Teile verstehen sich, glaube ich, nicht nur als Verlängerungen und Überleitungen, sondern als Interventionen, wie das neudeutsche Wort für diese Collagetechnik lautet. Hier haben die Musiker Erstklassiges geleistet. Der eigentümlichen Tonsprache Kreneks kommen sie mit gelind modernistischen Attacken entgegen, die die Texte zu neuen Kommentaren zu einem alten Thema machen. Das Violoncello schrammelt herzhaft dissonant, das Klavier grüßt zu den 20er Jahren zurück, der Schlagzeuger beginnt den Abend mit einem regelmäßigen, gleichzeitig aber nervösen Drum. Die Figuren stehen, nur einer schaut sie an: der Diktator. Schon dies ist ein starkes Bild in einem einfachen wie sinnfälligen Raum, der schon schnell stark und körperaktiv bespielt wird, wenn auch meist der wichtige Text irgendwo hingesungen wurde, wo man ihn nicht mehr finden konnte. Die Vermutung, dass ein Bild, noch dazu verbunden mit einer impulsiven und facettenreichen Musik, mehr sage als 1000 Worte, ist leider nur ein schwacher Trost. Aber: unterm berühmten Strich entstand in der Neuköllner Oper ein starker, durchaus nicht winziger Abend.

Frank Piontek, 9.11.2018

Fotos: © Matthias Heyde