Gent: „Le Duc d’Albe“

Gewaltige Stimmen in erlebenswerter Donizetti-Rarität

Lieber Opernfreund-Freund,

Gaetano Donizetti hatte 1839 die Arbeit an seiner Oper „Le Duc d’Albe“ unterbrochen, unter anderem, um sich auf seinen „Liebestrank“ zu konzentrieren, so dass das Werk bei seinem Tod unvollendet blieb. Beinahe 35 Jahre nach Donizettis Tod wurde es von seinem Schüler Matteo Salvi unter Verwendung der Skizzen des Meisters aus Bergamo fertig gestellt, die Protagonisten Amélia und Marcello genannt (das Libretto von Eugène Scribe war zwischenzeitlich aus Flandern nach Sizilien verlegt und so zur Vorlage von Verdis „Vêspres siciliennes“ geworden) und als dreiaktige italienische Version „Il duca d’Alba“ 1882 uraufgeführt. Erst 130 Jahre später beauftragte die Vlaamse Opera den italienischen Komponisten Giorgio Battistelli mit der Fertigstellung der französischen Version in vier Akten. Herausgekommen ist eine interessante Kombination von Belcantoklang und zeitgenössischer Musik, die, 2012 erstmals gezeigt, in dieser Spielzeit erneut am Opernhaus in Gent zu erleben ist und die ich mir gestern für Sie angesehen habe.

Hélène und Henri kämpfen gemeinsam mit Daniel und anderen Aufständischen gegen die Belagerung Flanderns durch die Spanier. Die haben den Herzog von Alba geschickt, um die Rebellion niederzuschlagen. Als sich herausstellt, dass Henri der Sohn des Herzogs ist, verlangt Hélène von ihm, den Vater zu töten, um seine Liebe zu ihr zu beweisen. Nachdem er sich weigert, versucht sie selbst, den Herzog zu erdolchen, tötet dabei aber ihren Geliebten, der sich schützend vor den Vater wirft.

Battistelli unternimmt gar nicht erst den Versuch, nach Belcanto klingen zu wollen, sondern bleibt bei seiner Vollendung des Donizetti-Fragments seinem Stil ungebrochen treu und ergänzt die Original-Komposition um eine eindringliche Soloszene der Titelfigur im dritten Akt sowie ein fulminantes Finale der Oper. Seltsamerweise aber wirkt Battistellis Musik nicht wie ein Fremdkörper, vielmehr mischen sich Donizettis Melodien mit den musikalischen Brüchen und düsteren Klängen von Giorgio Battistelli und werden so zu einem symbiotischen Kunstwerk, bei dem sich die Stile gegenseitig stützen und in ihrer Wirkung verstärken.

Mit der Regiearbeit der französischsprachigen Uraufführung war 2012 Carlos Wagner betraut worden, der nicht der Versuchung unterliegt, das Werk allzu sehr zu politisieren. Nach Freiheit und Unabhängigkeit strebende Flamen sind uns auch heutzutage nicht ganz fremd, doch der aus Venezuela stammende Regisseur belässt es bei einem eher indifferenten Verlegen der Handlung ins 20. oder 21. Jahrhundert. Die Kreationen des belgischen Modelabels A.F. Vandevorst, in die man die Protagonisten gesteckt hat, sind von schlichter Tristesse beim Volk, beim Herzog von einer Art extravagantem Understatement. Überdimensionale Soldatenfiguren, die dem Land Brobdingnag aus Gullivers Reisen entstammen könnten, sind so allgegenwärtig wie Leid und Tod, scheinen übermächtig und die Revoltierenden unter ihren Stiefeln zu zerdrücken. Auf der bis auf wenige Requisiten leeren Bühne von Alfons Flores, die deutlich durch ein Stahlgerüst in ein „Oben“ und ein „Unten“ geteilt ist, ist eigentlich das durchdachte und fein austarierte Licht von Fabrice Kebour der Inszenator, das die ausgefeilte Personenregie von Carlos Wagner noch verstärkt. Wagner findet starke Bilder, zeichnet den Herzog als machthungrigen Despoten, ganzkörpertätowiert und brutal – und doch um die Liebe seines wiedergefundenen Sohnes buhlend. Dass sich der nicht ganz freiwillig vor seinen Vater wirft, um ihm das Leben zu retten, ist da nur konsequent.

Auch musikalisch wird in Gent mit so manchem Pfund gewuchert. Angefangen beim tadellos singenden und mit feinem Tenor ausgestatteten Chorsolisten Stephan Adriaens über David Shipley, der den Sandoval mit massigem Bariton gekonnt zum gewaltgeilen Handlanger des Herzogs macht, bis hin zu Markus Suihkonen, der mit eindrucksvollem Bass den Revoluzzer Daniel gibt, ist auch die zweite Reihe kraftvoll besetzt. Ania Jeruc verfügt ebenfalls über viel Kraft und zeigt die in der Partie der Hélène auch unumwunden, lässt aber für meinen Geschmack da und dort ein wenig Gefühl vermissen und betont so die kämpferische Seite ihrer Figur über Gebühr. Dazu neigt sie in der Höhe zu einer gewissen Schärfe. Der türkische Bariton Kartal Karagedik war mir in der Vergangenheit schon mehrfach aufgefallen, das Hamburger Ensemblemitglied hatte mich schon als Gérard im „Chénier“, in Puccinis „Fanciulla“ oder in der Wolf-Ferrari-Rarität „I Gioielli della Madonna“ begeistert. Deshalb war ich auf seine Interpretation der Titelfigur besonders gespannt. Mühelos meistert er auch die Herausforderungen des Belcanto, wobei ihm die wohl schwierigste Rolle des Abends zukommt, fallen doch die Battistelli-Ergänzungen vornehmlich in seinen Part. Gerade noch muss er im Belcanto-Style fast vornehm den Despoten geben, um innerhalb von Sekunden die offen zur Schau getragene Brutalität in der Battistelli-Komposition zeigen, ehe er ein paar Takte später wieder Donizetti singt. Dabei zeigt er dermaßen viele Facetten seines zu großem Gefühl wie zu großem Ausbruch fähigen Baritons, dass es eine wahre Freude ist. Das Publikum freilich schnappt sich beim Schlussapplaus der Tenor. Wie kann man aber auch einer so schönen Stimme nicht erliegen, wie sie Enea Scala hat. Voller Gefühl und metallischem Klang, von endlosem Atem und enorm höhensicher, was der Italiener am gestrigen Abend gerne und oft zeigt. Ein uneingeschränktes „Bravissimo“ also den beiden Herren!

Gleiches gilt für das, was aus dem Graben schallt. Donizettis zum Teil extrem pathetische, fast hymnische Partitur ist bei Andriy Yurkevych in den besten Händen. Und doch präsentiert er zusammen mit den Damen und Herren des Symphony Orchestra Opera Vlanderen ebenso überzeugend auch traumhafte Melodienbögen voller Sentiment und furiose Passagen. Der Chor unter der Leitung von Jan Schweiger meistert seinen umfangreichen Part überzeugend in gesanglicher wie darstellerischer Hinsicht.

Kurz, lieber Opernfreund-Freund, lassen Sie sich diese erlebenswerte Produktion nicht entgehen, scheuen Sie die Reise nach Gent nicht. Die Stadt ist auch ohne Oper schon einen Besuch wert, diese Donizetti-Rarität allerdings ist derzeit sicher das Sahnehäubchen.

Die Fotos stammen von Annemie Augustijns.

Ihr Jochen Rüth / 22.11.2017