Lüneburg: „Wir, Carmen“

Carmen ist weit weg – und phänomenal präsent

Carmen einmal anders: Mit „Wir, Carmen“ unternimmt das T.NT Studio des Theater Lüneburg eine Annäherung an Bizets berühmtes Werk, die auch Opernferne und junge Leute für diese Kunstsparte erobern möchte. Das Theater selbst charakterisiert das Stück als „Musiktheater-Produktion rund um die Figur der Carmen zwischen Schauspiel und Bizets populärer Oper“. Dies ist deshalb etwas irreführend, weil – zumindest bei mir – eine andere Vorstellung mit dem Begriff „Musiktheater“ verbunden ist, nämlich die Umsetzung einer Komposition in Bühnenbilder. Tatsächlich erfolgt hier eher eine Auseinandersetzung mit dem Roman von Prosper Mérimée und dem Libretto, deren inhaltliche Themen und Motive zeitgemäß übersetzt werden. Das gilt auch für die Musik: Sie ist versehen mit neuen, auf heutige Situationen gemünzte Texte (Nilufar K. Münzing). Dies sei nur vorangeschickt, weil man nicht in der Erwartung hingehen sollte, Bizets „Carmen“, wie man sie ohnehin kennt, zu erleben. Dann allerdings, frei von jeglicher vorgefasster Meinung, bereitet einem der Besuch von „Wir, Carmen“ regelrecht Spaß – und großartige Entdeckungen.

(W)Ihr, Carmen: Zwei Frauen, denen der Mythos buchstäblich im Nacken sitzt

Zunächst einmal hat „Wir, Carmen“ einen sehr reizvollen Grundgedanken (Idee / Inszenierung Friedrich von Mansberg): Erzählt wird die Geschichte einer jungen Sängerin, die als „Cover“, also als Proben-Double, die Rolle der Carmen aus Bizets Oper einnehmen soll. In diesem Kontext werden einerseits die großen Probleme jeder jungen Frau verhandelt, die zwischen Liebe und Beruf, Eltern und Eigenständigkeit lavieren muss. Dass die berühmte Opernfigur selbst (ausgebeutete) Fabrikarbeiterin ist, ist heutzutage kein relevanter Aspekt mehr – die Menschen haben zumindest hierzulande inzwischen andere Probleme, die jedoch auch gravierend sind. Obendrein jedoch ist die als feministischer Diskurs beginnende Handlung im Umfeld des Opernbetriebs verortet – und das bietet die Möglichkeit, die Themen wunderbar witzig zu vergröbern oder auch zu verfeinern. Das ganze Minenfeld einer Opernproduktion wird ebenso amüsant wie elegant abgeschritten, wobei der entscheidende Kunstgriff darin liegt, dass alle Figuren von lediglich zwei Akteurinnen – eine Opernsängerin und eine Schauspielerin – verkörpert werden, die hier sämtliche Register der darstellenden Kunst ziehen.

Da macht sie sich nen Schlitz ins Kleid und find’t es wunderbar: Sopranistin mit „Klim-Bim“

Mezzosopranistin Kristin Darragh und Schauspielerin Olga Prokot gelingt das Spiel mit Identitäten, Temperamenten und Tollheiten bewundernswert mühelos und überzeugend. Zu meistern ist der rasche Wechsel zwischen verschiedensten Persönlichkeitsextremen – von der schüchternen Operndebütantin zum raumgreifenden Regie-Macker (ein Glanz-Part von Olga Prokot), von der püppchenhaft stöckelnden und kieksenden Sopranistin (die beiden gut gelingt) zum arroganten Stardirigenten oder zur launenhaften Diva (bestens getroffen von Kristin Darragh). Die ursprüngliche Bedeutung der wichtigsten Arien und Chöre aus Bizets „Carmen“ wird dabei auf aktuelle Situationen übertragen – einer der schönsten Momente hierbei die von den Protagonistinnen gemeinsam gerauchte Zigarette, während sie die Lobeshymne der Fabrikarbeiterinnen auf den Rauch, „La fumée“, singen. In Szenen wie diesen wird auch überraschend offenbar, dass zwei unterschiedlich ausgebildete Stimmen – die eine klassische Singstimme, die andere ausgebildete Sprechstimme – hervorrangend miteinander harmonieren können (Musikalische Leitung Hye-Yeon Kim).

Die Hinterwand der Bühne ist dekoriert wie ein Dessous-Geschäft

Wer oder was nun „Carmen“ ist – auch in diesem Versuch einer Annäherung wird das Rätsel nicht wirklich gelöst, lediglich umkreist. Beide Darstellerinnen setzen sich aus verschiedenen Blickwinkeln damit auseinander, nicht zuletzt auch aus ihrem eigenen – der Tatsache, dass sie „Carmen“ sind oder sein sollen. Schon die Ausstattung (Bühnenbild und Kostüme Christiane Becker) deutet „Carmen“ als erotisches Phänomen, als klassische Form der Sexbombe: Die Hinterwand der Bühne ist dekoriert wie ein Dessousgeschäft, und die schmale Rampe ragt tief ins Publikum wie ein Laufsteg. Dass Fernseh-Formate wie „Deutschland sucht den Superstar“ und „Germany’s next Top Model“ von ihrem Grundgedanken her längst auch den Opernbetrieb erfasst haben, dass es nicht mehr nur darauf ankommt, gut singen zu können, sondern auch perfekt auszusehen – all dies ist hier ganz nebenbei und höchst nachdenkenswert untergebracht. Die eigentliche große Provokation, die die Figur der Carmen darstellt, nicht nur im Stück, auch gesellschaftlich, ist allerdings nicht mehr vermittelbar: Sie tritt in der Oper an jener Stelle zutage, als Carmen zur Zapfenstreich-Melodie für Don José tanzt. Ihr lasziv trällernder Gesang umspielt die zur Einkehr in die Kaserne mahnende Trompete. Eine solche Frau ist ein Sicherheitsrisiko, eine Bedrohung für die staatliche Ordnung – nicht weniger. Es ist klar, dass sie sterben muss. Der Dummkopf Don José (die relativ undankbare, grundsätzliche Funktion, die Tenöre in Opern nicht selten innehaben, wird in diesem Stück übrigens wunderbar süffisant erörtert), ist letztendlich nur Handlanger für eine Strafe, die ohnehin irgendwann an Carmen vollstreckt worden wäre. Dieser entscheidende Moment der Oper, der den wichtigsten Aufschluss über die Titelheldin gibt, ist der aktuellen Carmen-Reflexion verloren – folgerichtig fehlt hier die Übertragung der Szene ins Heute.

Carmen (Kristin Darragh) singt Habanera ohne Ende – und dafür lieben wir den Regie-Macker (Olga Prokot)!

So gilt also in vielerlei Hinsicht: „Carmen is far away!“, wie die launenhafte, langsam alternde Primadonna auf den Anrufbeantworter ihres umtriebigen Dirigenten-Gatten klagt. Das, was mit dem Mythos verbunden wird, entspricht nicht ihrer jetzigen Verfassung. Wie es denn auch stimmt, dass die Figur, die wir aus Bizets Oper kennen und erwarten, in „Wir, Carmen“ weit weg ist. Und dennoch ist sie atemberaubend, phänomenal präsent. Dass es eben nicht zwei, sondern nur eine Carmen geben kann, und dass diese gesungen werden muss – diese großartige Erkenntnis beschert uns Kristin Darragh. Sie verleiht der Heldin genau jene hinreißend warme, erotische, klangvolle Stimme, die wir mit Carmen in Verbindung bringen (und sie ist, ganz nebenbei, auch eine tolle Darstellerin, nicht nur für diese Rolle). Man kann gar nicht genug bekommen, nicht nur von ihrer „Habanera“, die der nölige Regisseur sie immerfort repetieren lässt (dafür zumindest lieben wir diesen Kotzbrocken). Und so unterhaltsam die ernüchternden Abbrüche der romantischen Bizet-Melodien sind, so witzig die von ihrer Schauspiel-Kollegin darüber gesprochenen neuen Texte – man wünscht sich all dies weg und möchte nur noch eins: Dass Kristin Darragh singt und dass sie niemals aufhört, dass diese wunderbare Stimme niemals verstummt. Deshalb: Das Ganze bitte nochmal, am besten für immer – und zwar als „Carmen“ pur. Mit Kristin Darragh in der Hauptrolle.

Christa Habicht, 9.5.2014
Sämtliche Fotos: Andreas Tamme