Lüneburg: „Don Giovanni“

Das „Prinzip Don Giovanni“ – diesmal mit einem alternden, schon etwas müden Beau

Das Theater Lüneburg gehört zu den kleinsten Dreispartentheatern in Deutschland und verfügt nur über sehr bescheidenen Ressourcen. Das Hausorchester, die Lüneburger Sinfoniker verfügen nicht einmal über dreißig Planstellen, können sich aber von Fall zu Fall verstärken; der Opernchor ist winzig und ist lediglich der Nukleus für den dazu auftretenden Extrachor. Aber es gibt einen Theatersaal im schönen Stadttheater, im „Großen Haus“, von annähernd 550 Plätzen. Die wollen von der Kleinstadtbevölkerung von 75000 Einwohnern in weniger als sechzig Kilometern Entfernung von der Hamburgischen Staatsoper erst einmal gefüllt sein! Das versucht man mit zwei oder drei Opernproduktionen pro Spielzeit, mit Musicals, Operette und musikalischen Revuen. Da ist auch viel Bürgersinn gefragt!

Copyright aller Produktionsbilder: Theater Lüneburg

Hajo Fouquet, der Intendant des Theaters Lüneburg, legt als Regisseur einen lebendig-spritzigen und zugleich nachdenklichen Don Giovanni vor. Im Grundzug folgt er der romantischen Deutung von E.T.A. Hoffmann: Donna Anna ist dem Don Giovanni zugetan und nicht dem opahaften Schwächling Ottavio, aber durch den Tod ihres Vaters im Duell muss sie pflichtgemäß Ottavio zur Rache an ihrem heimlichen Schwarm Giovanni aufrufen. Dieser schwadroniert aber nur über Rache, eine Rache, die letztlich nur der tote Komtur will, denn Masetto ist letztlich mit einem Quickie mit seiner Zerlina wieder ruhig zu stellen und Elvira, obwohl sie hier rabiat auftritt wie ein Drachen, möchte auch etwas anderes…

Don Giovanni ist ein gesetzter Herr von nobler Statur und gutem Auftreten und nicht – wie zuletzt häufig gesehen – der jugendliche Macho aus dem Fitnessstudio mit offenem Hemd und Waschbrettbauch. Unser Don Giovanni hier vergewaltigt nicht, er bezahlt auch nicht, sondern überzeugt durch Charisma. Er hat wohl auch Donna Anna von sich überzeugt, denn sie kommt zu Beginn auf die Bühne gelaufen wie gerade von einem Liebesspiel. Aber da ist ihr Vater, der das so oder so gar nicht billigt und sich dummerweise auf ein Duell mit dem gewandten Don Giovanni einlässt. So erfährt das „System Don Giovanni“ schon in der Eingangsszene seine Wendung: Denn in diese Situation ist Don Giovanni hineingeschlittert. Mord, Totschlag, Gewalt sind nicht sein Ding; von nun an gelingt ihm trotz unermüdlichen Einsatzes nichts mehr. Seine Zeit läuft ab wie der Sand, der vom Bühnenhimmel rieselt.

Bühne und Kostüme von Stefan Rieckhoff, gleichermaßen gelungen, verweisen auf die Entstehungszeit der Oper. Das Einheitsbühnenbild zeigt einen großen freien Raum vor einer kleinen erhöhten Bühne; rechts eine große Tür, links ebenso große Fenster. Trotz dieser Bühne findet aber nicht Theater im Theater statt, sondern in einzelnen Szenen eher ein Spiel auf zwei Bewusstseinsebenen, was vor allem gegen Ende deutlich wird. Treten zunächst die Protagonisten meistens von der Bühne durch deren Vorhang auf und nutzen diese Bühne schon einmal zum Verkünden von besonders wichtigen Botschaften an dieser „zweiten Rampe“, so verbirgt sich hinter dem Vorhang später der Friedhof, auf welchem regungslos der Komtur steht, umgeben von kleinen roten Friedhofslichtern. Da steht er auch noch, als im Finale der Vorhang wieder geöffnet wird, diesmal aber umgeben von den Choristen mit roten Lichtchen. Er erheischt von Giovanni die förmlich höfliche Begrüßung zum Nachtmahl. Dieser weiß, dass er verspielt hat, und begibt sich über die kleine Bühne gewissermaßen aus eigenem Antrieb ins Jenseits zum Komtur. In seinem Sessel nimmt indes schon ein neuer, jüngerer Don Giovanni Platz, sofort bedienert von Leoporello, der sich ja im Originaltext einen „besseren Herrn“ suchen will (Szene hier gestrichen): die Geschichte beginnt also schon von neuem, während das Schluss-Sextett noch die Moral von der Geschichte erklingen lässt.

Hajo Fouquet setzt diese seine Geschichte in vielen raffinierten Einzelheiten und einer kreativen, quirligen Personenregie perfekt um. Auf platte Regie“einfälle“ wird verzichtet. Quer durch den Saal sind Leinen gespannt, an denen man Vorhänge vorziehen kann, die zur Teilung der Szene oder zum Verstecken des Personals dienen können, aber auch – wie z.B. im Falle der Registerarie des Leporello – zum Vorziehen einer mit intimer Damenwäsche bestückten Wäscheleine. Elvira, der Leporello zum Mitlesen seiner Arie das Büchlein in die Hand gedrückt hat, entdeckt an dieser Leine wohl auch ein Teil aus ihrer Wäschekammer: schnell entfernt sie es.

Die Lüneburger Sinfoniker musizierten unter der Leitung ihres Chefs Urs-Michel Theus präzise und solide, aber manchmal etwas zu laut. Flotte Tempi und Kürzungen bei den Rezitativen sowie die Streichung von „Nur ihrem Frieden“ führen im ersten Akt zu einer etwa 10-minütigen Verkürzung gegenüber der Normallänge. Im zweiten Akt wurde dann auch an drei Musiknummern die Axt angelegt, so dass die Gesamtdauer der Oper auf unter zweieinhalb Stunden gedrückt wurde. Die Kürzungen betreffen (dramaturgisch nachvollziehbar) die neunte Szene des zweiten Akts (viele neuere Inszenierungen fügen hier indes die dramaturgisch problematische Szene Leporello – Zerlina wieder an) sowie die scena ultima, von der nur der Moralgesang übrig bleibt. Im Finale des zweiten Akts erreicht das Orchester eine schöne dramatische Steigerung. Der kleine Haus-Chor des Theaters, verstärkt durch den Extrachor, alle in hübsche ländliche Kostüme gekleidet, war präzise einstudiert und zeigte dazu eine große Spielfreude. Bei den Sängern überragten Ulrich Kratz als Don Giovanni und Nico Wouterse als sein alter ego Leporello. Giovanni mit elegantem warmem Bariton, Leporello sehr stimmkräftig und etwas bissiger. Beide sangen perfekt textverständlich sowohl im Rezitativ als auch in den Arien. Sie enthüllten in der deutschen Übersetzung des Stücks von Georg Schünemann, bearbeitet von Peter Brenner, in ihrem verbalen Schlagabtausch das sozialkritische Potential des Stücks. Arthur Pivu sang mit kernigem Bass einen soliden Masetto und gab gleichzeitig den Komtur. Bei den Damen war das Bild etwas gemischt. Franka Kranais war eine sehr zierliche Donna Anna, leider textlich kaum zu verstehen; ihren stimmlichen Höhepunkt erreichte sie im „Ich grausam?“ Yaroslava Romanova, ebenfalls von reizender Bühnenpräsenz, gab eine sauber intonierende Zerlina, und Sonja Gornik mit ausladendem dunkel timbrierten Sopran die Donna Elvira, die ihr Spiel zwischen Rache und Liebe glaubhaft gestaltete. MaKenzie Gallinger wurde als Ottavio in ein übertrieben lächerliches weißes Rokoko-Kostüm gekleidet; auch benutzt er schon einen Gehstock. Stimmlich vermag er nicht zu überzeugen.

Alles in allem: eine überzeugende Inszenierung auf ansprechendem musikalischem Niveau. Das Publikum im leider nur zur Hälfte gefüllten Zuschauerraum dokumentiert seine Zustimmung zu dem Gesehenen durch herzlichen Applaus. Don Giovanni wird in Lüneburg bis Ende Mai noch sieben Mal gespielt.

Manfred Langer, 14.4.2012