Buchkritik: „Women Composers in New Perspectives, 1800-1950“ und „Lettres de Charles Gounod à Pauline Viardot“

Wer mehr zum Thema „unbekannte Komponistinnen“ wissen möchte, findet beim Palazzetto mehrere interessante Bücher: Biographien von Mel Bonis und Augusta Holmès und das wissenschaftliche Buch Women Composers in New Perspectives, 1800-1950.

Man lernt, um nur ein Beispiel zu nennen, Sophie Gail (1775-1819) kennen, eine für damalige Verhältnisse stark emanzipierte Frau, die sich 1801 von ihrem Mann scheiden ließ, danach drei uneheliche Kinder mit drei verschiedenen Männern bekam und alle ihre Kinder durch die Väter erziehen ließ, damit sie sich ganz ihrer Karriere widmen konnte. Und diese war durchaus beachtlich: Ihre Erstlingsoper „Les Deux Jaloux“ (1813) gehörte mit über 300 Aufführungen zu den zehn meist gespielten Werken der Opéra Comique (bis 1830) und wurde schon gleich nach der Uraufführung in ganz Frankreich gespielt, auch in Brüssel, Lausanne und Wien: 1814 am Kärtnertor-Theater (Vorläufer der Hof-, nun Staatsoper) als „Die beyden Eifersüchtigen“. Ihre Oper „Serenade“ (1818), mit der dieses „Frauen-Jahr“ des Palazzettos im Januar in Avignon anfing, war schon ihre fünfte und soll in den nächsten Jahren noch öfters gespielt werden.

Last but not least gibt es ein (neues) Buch zu Pauline Viardot-Garcia (1821–1910). In einer Sängerfamilie geboren, war Pauline nur 15 Jahre alt, als ihre ältere Schwester Maria, die legendäre „Malibran“, 28-jährig vom Pferd stürzte und (quasi) auf der Bühne starb. Daraufhin musste Pauline, die eigentlich Pianistin werden wollte und exzellenten Unterricht bei Franz Liszt bekam, sich als Sängerin ausbilden lassen, um den Platz ihrer Schwester einzunehmen – was ihr gelungen ist. Aber wenn ein Komponist wie Charles Gounod, wie man es jetzt lesen kann, ihr an die 500 Seiten an Briefen schreibt, dann war sie deutlich mehr als „nur“ eine Sängerin. Sie nutzte ihre Kontakte in ganz Europa, um junge oder „schwierige“ Komponisten zu fördern (Charles Gounod, Hector Berlioz, Camille Saint-Saëns, Gabriel Fauré, Jules Massenet etc), leitete von 1863 bis 1870 ein eigenes Theater in Baden-Baden, das durch sie ein Musikzentrum wurde, war eine hoch angesehene Musikpädagogin (insbesondere wenn es darum ging, wie man Chopin spielt) und natürlich auch eine Komponistin (bald will das Palazzetto ihre Oper „Der letzte Zauberer“, Baden-Baden 1867, aufnehmen). Melanie von Goldbeck, welche die Briefe von Gounod herausgegeben hat, arbeitet nun an einer Ausgabe der Briefe von Pauline Viardot-Garcia – eine Riesenarbeit, da diese fließend fünf Sprachen beherrschte und in denen auch schrieb. Quelle femme! In diesem Sinne ist diese Fülle an Informationen über Komponistinnen nur ein Eintauchen in einen ganzen Kosmos, der sich nun erst langsam für uns erschließt – und wo sicher noch viele Entdeckungen in den nächsten Jahren auf uns warten.

Waldemar Kamer, 26. Juni 2023


„Women Composers in New Perspectives, 1800-1950bei Brepols

„Lettres de Charles Gounod à Pauline Viardot“ (Melanie von Goldbeck) bei Actes Sud


Beiträge zum Schwerpunkt „unbekannte Komponistinnen“:

„Fausto“, Oper von Luise Bertin

Konzert: „Sieben romantische Komponistinnen“

CD-Box „Compositrices“

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