Berlin: Mahlers 2. Sinfonie in c-Moll

Eigentlich ist es jammerschade, dass Gustav Mahler, der renommierte Operndirigent, keine Oper geschrieben hat (wenn man mal vom jugendlichen Elaborat RÜBEZAHL und der von ihm erstellten Aufführungsversion von Carl Maria von Webers Opernfragment DIE DREI PINTOS absieht). Denn gerade nach einer derart packenden Aufführung einer Sinfonie aus seiner Feder, wie man sie gestern Abend in der Berliner Philharmonie erleben durfte, wird einem erneut bewusst, welch genialer Musikdramatiker Gustav Mahler war. Selbst wenn man keine große Ahnung von den intellektuellen, geistigen Hintergründen und Inspirationsquellen dieser zweiten Sinfonie Mahlers hat (von Jean Paul, der WUNDERHORN-Liedsammlung, Mickiewiczs TOTENFEIER bis zu Antonius’Fischpredigt und diversen Bibelstellen und Wagners PARSIFAL), durchlebt man in dieser 90 Minuten dauernden „Auferstehungssinfonie“ ein faszinierendes musikalisches Drama, taucht ein in zerklüftete, qualvolle Abgründe, philosophisches Aufwerfen von existentiellen Fragen und ein tröstendes, erhebendes Finale.

Kent Nagano, von 2000 bis 2006 Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin und nun Ehrendirigent dieses wunderbaren Orchesters, führte mit tiefgründiger, aufwühlender Intensität durch die gewaltige Partitur und schuf atemberaubende Spannungsbögen und ermöglichte so ein differenziertes, bewegendes Eintauchen in einen gewaltigen, aber nie dröhnenden oder oberflächlich plakativen Klangstrudel.

Markant eröffneten die Celli und Kontrabässe den ersten Satz, in dessen weiterem Verlauf die widerstreitenden Gefühle und Qualen des „Helden“ geschärfte Kontur erhielten. Idyllische Gedanken von beinahe pastoralem Charakter wandten sich ins Grüblerische, führten zu Schmerz, Qual und Empörung. Dabei gingen Nagano und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin mit einer dynamisch ungeheuer eindringlichen Differenzierungskunst vor, schraubten den Klang subtil so hoch, bis man vermeinte an den Pforten der Hölle zu stehen – um gleich darauf erschöpft und ermattet in Triolenkaskaden niederzusinken.

Die fünfminütige Pause nach dem ersten Satz (die Mahler vorschreibt) wurde genau und mit höchster Konzentration auch seitens des Publikums in der voll besetzten Philharmonie eingehalten. Entspannung brachte der zweite Satz mit seinen präzise musizierten Ländler Rhythmen, sauberen Pizzicati der Streicher, unterstützt von Harfe und Piccolo. Nagano erreichte hier eine wunderbar federnde Klangqualität, wie auch im ersten Satz ließen die Diminuendi aufhorchen. Das Scherzo geriet zu einem fein austarierten Dialog zwischen Holz und wiegenden Streichern, mal geisterhaft getrieben und ruhelos, dann wieder verspielt, bis sich der Satz zu einem orgiastischen Hexensabbat mit Todesschrei steigerte.

Tröstend fügte sich der vierte Satz an, das URLICHT aus DES KNABEN WUNDERHORN. Mit ungemein wortdeutlicher Präsenz wies die Mezzosopranistin Okka von der Damerau mit ihrer farbenreichen Stimme dem gepeinigten Helden den Weg zu Gott. Dass dieser Weg zur Erlösung und zur Auferstehung kein einfacher ist, zeigte der gewaltige Schlusssatz: Tief dringt er ein in die Zerklüftung der gepeinigten Seele des Menschen, ein wahres Purgatorium folgt. Das DSO zeigte sich an allen Pulten dieser immensen Aufgabe gewachsen, von den Posaunen-Chorälen zu den räumlichen Echowirkungen (durch Platzierung von Musikern in den Foyers) und den marschartigen Passagen, die schließlich zum von Klopstock inspirierten Auferstehungschor führten.

Die AUDI JUGENDCHORAKADEMIE war von Martin Steidler einstudiert worden und vermochte mit runder, reiner Tongebung zu ergreifen. Erst fast unmerklich löste sich die jugendlich aufblühende Stimme der Solo-Sopranistin Alexandra Steiner aus dem Chorgesang. Zusammen mit Okka von der Damarau und dem stimmschönen Chor der AUDI JUGENDCHORAKADEMIE vermeinte man tatsächlich dem durchlittenen Weltschmerz zu entschweben. Nach einem kurzen Innehalten nach dem Verklingen der Sinfonie brandete begeisterter Beifall auf. Ja, Mahler wäre ein fantastischer Opernkomponist geworden.

Kaspar Sannemann 29.6.2018

Foto (c) Der Opernfreund / Sannemann