Essen: Gustav Mahler Sinfonie Nr. 6

Berliner Philharmoniker & Sir Simon Rattle

György Ligeti
„Atmosphères“ für großes Orchester

Richard Wagner
Vorspiel zum 1. Aufzug von „Lohengrin“

Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 6 a-Moll „Tragische“

Wenn Hammerschläge das Universum erschüttern

Als eine vorbildliche Zusammenarbeit in der Region kann diese Veranstaltungsreihe gelten. „Vor allem für die Menschen im Ruhrgebiet haben wir die RuhrResidenz ins Leben gerufen“, so Hein Mulders (Geneneralintendant von Essen) "Sie wird ganz sicher aber auch über die Region hinaus ausstrahlen und das Ruhrgebiet mit seinen beiden Konzertsälen in Essen und Dortmund als international bedeutendes Musikzentrum ausweisen. Wichtig ist uns dabei, dass Sir Simon Rattle eigens für diesen Anlass eine besondere Konzertdramaturgie entwickelt hat – mit Werken von Mahler und Ligeti. Ein spannender, inspirierender Mix!“

War am Vortag in Essen und vorher in Dortmund (unser Bericht) schon höchst erfolgreich Ligetis Weltuntergangsepos "Le Grand Macabre" halbszenisch über die Bühne der Philharmonie gegangen, so war der Publikumsansturm heuer gigantisch – Menschen mit Schildern "Karte gesucht" gab es früher mal in Bayreuth und heute nur noch in Salzburg, wenn Anna Netrebko singt, oder Pavarotti demnächst wieder auf die Erde zurück geklont wird. Sogar auf den Stehplätzen trat man sich gestern auf die Füße. Ein Weltkulturereignis von Konzert ;-).

Dabei begann jener spezielle Simon-Rattle-Concerto-Mix diesmal geradezu kongenial mit einem knapp 20-minütigem Präludium aus György Ligetis "Atmosphères" und dem Vorspiel zum ersten Akt von Wagners "Lohengrin". Eine Warmspielphase, nach welcher das Publikum erst einmal in die unverdiente Pause geschickt wurde, bevor das Highlight des Abends, Mahler Nr.6 – welches eigentlich allein schon ein großes Sinfoniekonzert füllt – aus den göttlich goldenen Hörnern erschallte.

Das Rauschen des Kosmos – Stille wird hörbar

Dabei war die Zusammenstellung von Ligetis schon 1956 entstandenem leisem Klangrausch-Opus in nahtloser Verbindung zum schönen Wagnervorspiel (welches ja, im Gegensatz zum fast dröhnenden Lohengrin-Vorspiel Akt 3) erheblich weniger lautes und angenehm zu rezipierendes Klang-Getöse ist, einfach ein wunderbarer Einfall; denn bei Ligetis dominiert der Klangkosmos des Leisen, des fast Unhörbaren.

Wenn die Bläser einfach nur Luft blasen, ohne Noten zu erzeugen, dann klingt das und man empfindet es, wie ein lauer Sommerwind. Hier wird Stille hörbar. Was für ein Klang, wenn Schlagzeuger am Klavier sitzen und die Seiten mit Bürsten bearbeiten. Unerhört! Wir durchleben kosmische Schwingungen und das Publikum lauscht hochkonzentriert diesen Klangmomenten, die in der traumhaften Akustik der Essener Philharmonie sich geradezu bezirzend verteilen und wie Daunenfedern durch den Raum gleiten.

Die "kosmischen Dinge" an die Ligeti beim komponieren gedacht hat, vermitteln sich unmittelbar, ohne daß man an Weltraum denken muß, denn da hört man ja nun einmal gar nichts. Was für ein schönes Vorspiel, welches im Wagner-Crescendo seinen Höhepunkt findet. Ein "Amuse Gueule" sozusagen für den großen zweiten Teil mit Mahler 6.

Hammerschläge und Herdenglocken

In der Orchesterbesetzung geht Mahler hier über alles bisher Dagewesene hinaus, was beispielhaft an den legendären gigantischen Hammerschlägen im Finale zu hören ist; deren es einst drei gab. Auch an Ausdrucksintensität fordert Mahler seinen Interpreten alles ab und hat in den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle das vielleicht weltbeste Mahler-Orchester zur Darbringung einer Interpretation, die am Ende das Publikum förmlich zum Rasen brachte.

Hervorstechendes Merkmal sind viele Momente geradezu roher Gewalt, mit denen Mahler die Brutalität des heraufziehenden 20. Jahrhunderts reflektierte und die vielleicht heute schon wieder bedrohlich über uns hängen – insoweit ein brisantes aktuelles Werk.

Schön, daß bei Rattle, trotz allem Gigantismus, immer alles noch durchhörbar und auch im Fortissimo transparent bleibt. Obwohl er das Werk in seinem Leben schon hunderte Male dirigiert hat, stellt sich bei Simon Rattle nie Routine und Langeweile ein. Er durchforstet und erobert diese Musik jedes mal wieder aufs Neue. Musik die erschüttert ohne zu erschlagen, die berührt ohne allzu rührselig zu werden und die selbst Marschrhythmen noch in grandioser Klassizität zelebriert ohne militärisch zu wirken. Besser kann man Mahler einfach nicht spielen!

Und so ließ es sich dann auch Intendant Mulders nicht nehmen dieses Mal seine Künstler nicht mit dem obligaten kleinen Allerwelts-Sträußchen vom Türpersonal, sondern persönlich mit zwei wunderbaren Rosen-Arrangements respektvoll und würdig zu verabschieden.

Peter Bilsing 28.2.2017

Bilder (c) Philharmonie Essen / Lorenz