Essen: „Lukas-Passion“, Krzysztof Penderecki

Ein Groß-Ereignis

"Nicht ich habe die Avantgarde verraten, im Gegenteil: Die Avantgarde hat Verrat an der Musik begangen." (K.P.)

Es ist gerade die LUKAS-PASSION mit der Krzysztof Penderecki, einer der ganz großen Komponisten der Nachkriegs- Avantgarde, weltberühmt wurde, als sie im Rahmen der 700-Jahr-Feier des Münsteraner Domes (Kompositionsauftrag des WDR) am 30. März 1966 mit großem Nachhall uraufgeführt wurde.

"Dieser Sensationserfolg der wohl erstmals nach Alban Bergs WOZZECK suggerierten avancierten Musik sei von der Mehrheit des interessierten Publikums rezipierbar, erklärte sich daraus, daß Penderecki den elfenbeinernen Turm avantgardistischer Eigenbezüglichkeit und musikmaterialer Selbstgenügsamkeit verließ" Besser als Ulrich Schreiber könnte man es kaum formulieren und trefflicher beschreiben, warum so viele Opernfreunde – den Kritiker eingeschlossen – Pendereckis Musik mögen. Ich gebe zu, ein erklärter Fan seiner Opern (DIE TEUFEL VON LOUDUN – UA 1969 in Hamburg, PARADISE LOST – UA 1978 Lyric Opera of Chicago, DIE SCHWARZE MASKE – UA 1984 in Salzburg & UBU REX – UA München 1991) zu sein, die leider im unsisonen Langweiler-Repertoire des Ewiggleichen an unseren hochsubventionierten Opernhäusern kaum auftauchen. Wenn doch, dann fahren Sie bitte unbedingt hin.

Was macht nun neben dem gigantischen Orchesterapparat des großen Mahler-Orchesters und der Applikation von sagenhaften vier Chören (!) die Einmaligkeit dieser grandiosen LUKAS PASSION aus? Es ist seine aufregende Klangsprache, seine aufwühlende, ja erschütternde Kraft. Neben Gregorianik und relativ neuromantischen Klangbildern in der Tradition von Bach, Wagner und Mahler sind Kontrapunktik und Zwölftönigkeit so lebendig frisch und spannend eingebaut, daß die gut 80 Minuten wie im Flug vergehen. Und wenn dem Zuhörer einmal doch die Augen zufallen sollten, bringen Pendereckis fast martialisch zu nennende gut verteilten Fortissimo-Akkordballungen auch dem alltagsgestressten Konzertgänger sofort wieder in die Waagerechte ;-). Der gebannte Zuhörer merkt, empfindet gar körperlich, was der Komponist ausdrücken möchte und ist tief beeindruckt; egal wo das Werk aufgeführt wurde.

"Diese Passion ist die Darstellung des Leidens und Todes Christi, aber gleichzeitig auch des Leidens und Todes in Auschwitz, die tragische Erfahrung der Menschheit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In diesem Sinne soll sie nach meinen Absichten und Gefühlen universellen, humanistischen Charakter haben."

Penderecki hat sich dabei nicht nur an den Passionsvertonungen von Johann Sebastian Bach orientiert, sondern erzählt auch alles auf Latein, was ihm bei seinen zeitgenössischen Kollegen viel Schelte einbrachte. Ja, hochverehrte liebe Opernfreunde, als wahre und anerkannte Moderne gilt immer nur das, was man nicht auf Anhieb versteht, was die Ohren verstört, wo kaum jemand hingeht, oder das Publikum gleich zu Beginn in Panik und Befremden flüchtet. (Vorsicht Ironie!)

Bei Penderecki sind auch traditionelle Hörgewohnheiten gut aufgehoben, denn welcher moderne Komponist hat es jemals geschafft, daß sein Auditorium ihn mehr mit als einer halbe Stunde (Warschau) in Standing Ovations und mit Hoch-Rufen applaudierend feierte? Gestern in der Essener Philharmonie waren es immerhin gut 15 Minuten und das obwohl der Maestro nicht (wie angekündigt) selbst dirigiert, sondern die Leitung seinem langjährigen treuen Mitarbeiter Maciej Tworek überließ – was dieser vorzüglich machte.

Allerhöchstes Lob am Ende nicht nur für die überragenden Solisten (Thomas Büchel / Sprecher, Olga Pasichnyk / Sopran, Bart Driessen / Bass und Jaroslaw Breks / Bariton) sondern auch für die tollen Chöre (Philharmonische KammerChor Essen, Kettwiger Bach-Ensemble, die Kölner Kantorei und der Knabenchor Hannover) und ein bis ins Feinste hochkonzentriert aufspielendes Orchester der Essener Folkwang Universität der Künste.

Wer nicht dabei war, hat ein Ereignis ersten Ranges verpasst, welches sich sicherlich so schnell nicht in Bälde wiederholen wird.

Peter Bilsing 14.11.16

Bilder (c) Der Opernfreund

PS – Negatives peinliches Apercu

Leider begann das Konzert erst mit über 20-minütiger Verspätung. Der Grund: Die unfassbare Langsamkeit der Theaterkassen, die es nicht schaffen 50 Anstehende zügig abzufertigen – und das bei einem Einheitspreis von 17 Euro bzw. ohnehin freier Platzwahl – unfassbar! Wobei ich überhaupt nicht nachvollziehen kann, warum sich der präsente Intendant – der sich immerhin nach 20 Minuten (!) beim Publikum entschuldigte, sich nicht vorher ein Herz fasst und die letzten Wartenden eine Minute vor Konzertbeginn dann zügig umsonst per order mufti in die Philharmonie leitet.

Vorbild hätte der, leider viel zu früh verstorbene, Düsseldorfer Ex-Intendant der Tonhalle Peter Girth, sein können. Ich erinnere mich noch gut: Er verschaffte anno 1986 gut 400 Konzertinteressierten auf diese Weise ohne "wenn und aber" gratis Einlass zur dritten Aufführung des Städtischen Sinfoniekonzerts. Ursache: Die Düsseldorfer hatten ihren lokalen Musikkritiker vertraut; aufgrund der sehr guten Kritik und der extra ausgesprochenen dringenden Empfehlung stürmten sie geradezu in Heerscharen zur dritten Aufführung des Städtischen Sinfoniekonzerts.

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