Köln: Musik und Botschaft

WDR Sinfonieorchester

Jukka-Pekka Saraste (Leitung), Igor Levit (Klavier)

Igor Levit ist ein Musiker der besonderen Art. Äußerlich wirkt der 31Jährige zwar mitnichten rebellisch, aber er meldet sich engagiert zu Wort, wenn es um politische Belange geht. Spektakulär war beispielsweise im April die Rückgabe des Echo-Preises wegen der Auszeichnung des Rapper-Teams Bang/Kollegah, welches sich mit antisemitischen Äußerungen gebrüstet hatte. Andere Künstler hatten freilich auch protestiert. Folgender Ausspruch von Levit könnte als Lebensmotto gelten: „Wenn ich mich als Künstler höheren Werten verpflichtet fühle, dann kann ich nicht beim Klavier aufhören.“

Das tat er auch jetzt nicht bei seinem Auftritt mit dem von Jukka-Pekka Saraste geleiteten WDR Sinfonieorchester. Die vom Publikum ekstatisch erklatschte Zugabe war nicht etwa eine romantische Ergänzung zum ersten Klavierkonzert von Johannes Brahms, sondern ein nach Pablo Picassos berühmten Gemälde „Guernica“ betiteltes Klavierstück von Paul Dessau. Bevor er zu spielen anhob, verlas der Pianist einen Text, der (einmal mehr) gegen politische Mißstände und rassistische Verbalentgleisungen zu Felde zog. Die Anspielungen auf Chemnitz waren unverkennbar.

Da dem Rezensenten ein Sitzplatz in der zweiten Reihe zugewiesen wurde, war eine besondere Sichtnähe zum Pianisten gegeben. Ungeachtet grundsätzlicher Ausstrahlung von Ruhe und Sicherheit fielen kleine Anzeichen von Nervosität vor dem Einsatz also auf, die aber vielleicht auch nur Ausdruck von innerer Anspannung waren: Fingerbewegungen, Handversteifung, rhythmisches Beinzucken, Streichen über das Hosenbein. Hin und wieder aber auch ein lächelnder Blick ins Auditorium.

Das über weite Strecken stürmische Brahms-Konzert dürfte Igor Levit besonders liegen: gehämmerte Oktavgänge, rasantes Laufwerk, eine oft auf die Spitze getriebene Dynamik. Kontemplative Passagen kamen aber auch zu ihrem Recht. Hier gab Levit seinem Anschlag Zartheit mit, ohne aber den Ausdruck zu verzärteln. Ob der Dirigent Jukka-Pekka Saraste der Feuergestik des Solisten mit der seinen entsprach, was nicht festzustellen, da er hinter dem geöffneten Flügeldeckel nicht auszumachen war. Aber die interpretatorische Affinität war akustisch zur Genüge erfahrbar, und das WDR-Orchester spielte sozusagen auf der Stuhlkante sitzend.

Nach der Pause ein Werk von zeitlich ähnlicher Ausdehnung (dreiviertel Stunde): Arnold Schönbergs „Pelleas und Melisande“. Diese sinfonische Dichtung entstand 1903, also exakt zehn Jahre nach der Uraufführung des stoffliefernden symbolistischen Dramas von Maurice Maeterlinck. Zunächst war der junge Komponist für den Vorschlag seines Kollegen Richard Strauss offen, aus dem Bühnenwerk eine Oper zu machen (wobei er die Debussy-Vertonung nicht kannte), doch dann schien ihm eine wortlose Version passender. Schönberg plante auch noch andere Tondichtungen, die aber alle nicht zustande kamen. So blieb bei ihm dieses Genre verwaist, will man ihm nicht das Streichsextett „Verklärte Nacht“ oder die monumentalen „Gurre-Lieder“ hinzurechnen.

Bei der Wahl einer riesigen Orchesterbesetzung (u.a. vier Trompeten und fünf Posaunen) verwundert es nicht, daß Schönbergs „Pelleas“ musikalisch nicht in die Fußstapfen von Debussys eher fragiler Opernmusik tritt. Zwar taucht in den Klangfluten das Oboenmotiv für Melisande gebührend deutlich auf, aber Debussys Partitur gibt sich generell dezenter, zarter und geheimnisvoller. Saraste nahm keine wirkliche „Korrektur“ vor, ließ das bestens disponierte Orchester klanglich blühen und glühen. Erstaunlich freilich, zu welcher Pianoqualität der gewaltige Blechbläserapparat im Finale fähig war.

Die Wiener Premiere des Werkes 1905 hatte Befremden und Verständnislosigkeit ausgelöst; ein Kritiker empfahl sogar, den Komponisten in eine Irrenanstalt zu stecken. Dabei hatte Schönberg die Zwölftönigkeit noch nicht einmal zu seinem musikalischen Prinzip erhoben. Inzwischen empfindet man das frühe Werk als Ausläufer der Spätromantik, noch auf Tonalität fußend, wenngleich an deren Grenzen führend. Heutige Ohren haben damit keine Schwierigkeiten mehr. Und wenn man bedenkt, daß der zu Lebzeiten vielgeschmähte Gustav Mahler heute zu den absoluten Kultkomponisten gehört …

Bilder (c) Philharmonie / Felix Broede / Micha Salevic

Christoph Zimmermann (9.9.2018)