21. und 23. Juli 2017, Helmut-List-Halle
STYRIARTE 2017 – Prächtiger Abschluss mit JORDI SAVALL
Jordi Savall ist eine der vielseitigsten Persönlichkeiten unter den Musikern seiner Generation. Seit mehr als fünfzig Jahren macht er die Welt mit musikalischen Wunderwerken bekannt, die er dem Dunkel der Gleichgültigkeit und des Vergessens entreißt. Er widmet sich der Erforschung der Alten Musik, weiß sie zu lesen und interpretiert sie mit seiner Gambe oder als Dirigent – so liest man im Programmheft.
Was nicht im Programmheft steht: Mit Graz besteht eine besondere und jahrzehntelange Verbundenheit. Das Grazer Konzertpublikum füllt bei jedem seiner Auftritte den Saal und feiert den Meister stets begeistert. In diesem Jahr ist er in ununterbrochener Reihenfolge zum 25. Male Gast der Styriarte. Aber er war schon lange davor zum ersten Male in Graz: schon im Jänner 1975, knapp nach Savalls erster Orchestergründung, gastierte er in Graz mit dem Gamerith-Consort in kleinem Rahmen und interpretierte deutsche und englische Barockmusik, darunter auch die „Musicall Humors“ von Tobias Hume, die er dann 40 Jahre später auch bei der Styriarte spielte.
Terpsichore – Ballett-Suiten von Jean-Féry Rebel und Tafelmusik von Georg Philipp Telemann (21. Juli)
Sein erstes Styriarte-Konzert in diesem Jahre bestritt Jordi Savall mit dem von ihm gegründeten Orchester Le Concert des Nations . Zu Beginn erklangen Werke von Jean-Féry Rebel (1666 – 1747), dem ersten Meister der Ballettmusik in der französischen Musikgeschichte – so etwa Les Caractères de la Danse. Da werden in prägnanter Kürze fast alle Standardtänze der französischen Suite vorgestellt. Jordi Savall – an diesem Abend „nur“ Dirigent – leitete mit sparsamen, konzentrierten Gesten das exzellente 22-köpfige Ensemble. Alle Orchestermitglieder sind zweifellos Spezialisten auf ihren jeweiligen Instrumenten – vielleicht kann man diesmal speziell den Konzertmeister Manfredo Kraemer und die beiden Flöten sowie das stimmführende Violoncello besonders hervorheben. In der die Caractères abschließenden Sonate ist mir das besonders dicht und gleichmäßig, geradezu sturmartig anschwellende Crescendo in Erinnerung geblieben. Ein wahrhaft pittoreskes Orchesterstück ist das dem Programm den Namen gebende La Terpsichore mit seinem illustrativen Kriegslärm.
Nach der Pause wird dem französischen Ballettmeister der diesjährige deutsche Jahresjubilar Georg Philipp Telemann (250. Todesjahr) mit seiner Ouvertüre „La Bizarre“ und Ausschnitten aus seiner Tafelmusik gegenübergestellt. Das geradezu atemlose Presto und das abschließende Furioso – als Zugabe am Ende wiederholt – machen gebührenden Effekt und rufen begeisterten Beifall hervor. Als erste Zugabe ein Stück aus dem Übergang von der Renaissance zum Barock für Louis XIII, dann die erwähnte Telemann- Wiederholung – und weil der Beifall noch immer nicht nachließ, folgte ein wohlbekannter „Savall-Schlager“: die effektvolle Marche pour les Matelots von Marin Marais, die
hier nachgehört werden kann.
Fiesta Criolla – Cachuas, religiöse und weltliche Tänze aus Peru (23. Juli)
An diesem Abend trat Jordi Savall mit drei Ensembles auf: er führte das von ihm 1974 gegründeten Ensemble für Alte Musik Hespèrion-XXI und das ebenfalls von ihm gegründete Vokalensemble La Capella Reial de Catalunya mit dem mexikanischen TEMBEMBE-Ensamble-Continuo zusammen, um peruanische Musik aus dem „Codex Trujillo del Perú – 1780-1790“ aufzuführen. Im Programmheft liest man über diesen Codex:
Als um 1780 der Bischof von Trujillo, Baltazar Jaime Martínez Compañón, eine umfassende Bestandsaufnahme der alltäglichen Kultur im Peru seiner Zeit beauftragte, wollte er sich ein Denkmal setzen. Heute überwiegt ein anderer Aspekt: Der Bischof hinterließ eine einmalige Dokumentation des Alltagslebens, in der auf tausenden Blättern nicht nur Aquarelle die Menschen und ihre Tätigkeiten einfangen, sondern auch ihre Musik verewigt wurde. Genau 20 Tänze sind es, die der Codex überliefert, und in Jordi Savall und seinen Musikern findet dieser einmalige Blick in eine fremde Welt den beredtsten Anwalt für deren Vergegenwärtigung.
Und es hat sich gefügt, dass das Thema ganz aktuell und Bestandteil der Tagespolitik ist! Worum geht es:
Der Codex liegt in Spanien. Unlängst wollte das Museum in Lima bei einer Versteigerung neu aufgetauchte Aquarelle erwerben, aber Spanien erließ ein Ausfuhrverbot, weil es sich um „spanisches Kulturerbe“ handle.
Die Empörung in den lateinamerikanischen Staaten, insbesondere in Peru, war massiv und ist bis heute nicht abgeklungen. Wie kann es sein, dass das Land der Kolonisatoren, das über Jahrhunderte Unrecht und Versklavung nach Amerika brachte, immer noch die Errungenschaften der Lateinamerikaner für sich in Anspruch nimmt?
Inzwischen hat man einen Kompromiss gefunden – die Aquarelle gingen als Dauerleihgabe an das Museum in Lima. Ende Juni ist in der Kunstzeitschrift artnet.news ein reich bebilderter Bericht über den Codex Trujillo und den Streit zwischen Spanien und Peru erschienen. Es lohnt sich unbedingt, die Bilder anzuschauen – sie vertiefen den Eindruck, den man im Konzert durch die Musik gewonnen hat.
Jordi Savall leitete die Fiesta Criolla als Mitspieler auf der Diskantviola mit ruhiger Autorität – mit kleinen Kopf- und Körperbewegungen, mit Blicken oder mit dem Bogen dirigierend und das große Ensemble souverän zusammenhaltend. Das temperamentvolle Musizieren ließ geradezu vergessen, dass nicht auch getanzt wurde. Man hatte die seltene Gelegenheit, einmal durch großartige Musiker und Musikerinnen zu erleben, wie eine Musik entstanden ist, die sich aus europäischen, afrikanischen und indigenen Elementen zusammenfügt. Das Publikum in der ausverkauften Konzerthalle war begeistert und wurde bei den Zugaben mit einer Wiederholung der Tonadilla „El Palomo“ und mit einer Ciaconna belohnt. Jordi Savall und seine verschiedenen Musikgruppen bleiben in Graz besondere Publikumslieblinge – mit ihnen fand die Styriarte 2017 ein effektvolles und höchst qualitätsvolles Ende.
Daten der nächsten Styriarte: 22. Juni bis 22. Juli 2018 – der Opernfreund wird wieder berichten!
25. 7. 2017, Hermann Becke
Fotos: Styriarte
Hörhinweise:
– Das Konzert (Rebel und Telemann) vom 21.7. kann am 11. 8. hier im ORF nachgehört werden
– Jordi Savall und seine Ensembles haben im Exklusivlabel AliaVox ein Riesenangebot von CDs, DVDs und Hörbüchern. Der peruanische Codex scheint da noch nicht auf – aber ich bin überzeugt, auch diese Lücke wird in Savalls Medienkatalog bald geschlossen sein. Wer allerdings schon jetzt ein wenig in diese peruanische Musik hineinhören will, der muss sich noch mit Aufnahmen anderer Ensembles begnügen – ein Beispiel findet sich hier