Nürnberg, Konzert: „Liederabend“, Where I end and You begin

Schon nach 75 Minuten hat, wie die Marschallin gesagt hätte, der Spaß ein End‘. Der Spaß? Wo es um die Dialektik von Distanz und Berührung geht, hört der Spaß auf – bevor er wieder richtig losgeht.

© Konrad Fersterer

Früher hätte man das Format vielleicht als „Liederspiel“ bezeichnet, aber wir leben nicht im Zeitalter der Romantik oder des Biedermeier, in dem die Gattung populär war. Man nennt‘s einfach „Liederabend“, genauer: „Ein Liederabend über Raum und Nähe“. Man: das sind die Regisseurin Sophia Bodamer, die Musikerin Vera Mohrs (Leiterin der Abteilung Schauspielmusik) und der Texter Fabian Schmidtlein. Ende 2020, als Corona noch keine Vergangenheit war, begannen sie mit den Proben zu einem Stück, dem die Angst vor Berührungen förmlich eingeschrieben ist – allerdings auch das Gegenteil: die unglaubliche Sehnsucht nach Nähe. Heinz Rudolf Kunze sprach 1986 von einem weichen, warmen Attentat; am Ende wird das Sextett den Kunze-Song noch einmal als Zugabe bringen, weil er am unkompliziertesten dieses Gefühl nach Nähe, Berührung, Distanzlosigkeit auf den Punkt bringt, den die 17 Lieder dieses Abends beharrlich umkreisen: von Stölzels (der Barockschlager wurde Bach inzwischen erfolgreich abgeschrieben) „Bist du bei mir“ über Hildegard Knef und die Beatles zu Revolverhead und Mohrs. Die wunderbare Musikerin und Songschreiberin steht wieder am Keyboard, singt und spielt mit und animierte die Spieler, ihrerseits in die Tasten und Saiten zu greifen und zu streichen, ohne dass man den Eindruck hätte, Zeuge eines inszenierten Konzerts zu sein.

© Konrad Fersterer

Es sind echte Musiktalente, die im Nürnberger Schauspielhaus, an diesem Abend in den Kammerspielen, immer wieder zu Instrumenten greifen. Während Nicolas Frederick Djuren, der gern die Gitarre und die Ukulele zur Hand nimmt, Charles Trenets unsterbliches Chanson vom Meer und der Sehnsucht nach Mehr (pardon für den vergammelten Wortwitz) schliesslich englisch und betont lässig singrezitiert, mischt sich Elias Reichert an der Geige ein, indem er den Gesang zunächst mit dem wundersamen Beginn der ersten Bachschen Violoncello-Suite stört – bevor sich die beiden in einem schönen Duett zusammenfinden.

So finden sich auch die Songs zusammen; das Ungleichzeitige rückt zusammen, wenn sich Sophie Hungers „Walzer für Niemand“ &  Hoffmann von Fallerslebens „Das verwüstete Dorf“ und Stölzels Schlager mit „I want to hold your hand“ derart kreuzen, dass das Zweierlei zu einem Einerlei wird. Nicht, dass alles einen stringenten Sinn ergäbe. Den gibt‘s schliesslich nur für Lebenshilfeberater, nicht für Theaterleute. Der Abend besteht aus Fragmenten, die Übergänge sind brüchig, abrupt und überraschend – so dass das Gehirn etwas zu denken und das sog. Herz etwas zum Fühlen hat. Die Grenze zwischen Ironie und Ernsthaftigkeit ist schmal, die Witze kommen schnell (wunderbar die Aufzählung all jener „Weisheiten“, die man in schlechten Büchern und auf 100.000en von Postkarten findet), aber die Figuren sind, im locker entworfenen Raum am Meer, konsistent: weil die Spieler ihre Persönlichkeiten auf eine Bühne werfen, auf der schon die begrenzten Kammern für Individualität sorgen. Wenn Elina Schkolnik sich aus dem Kostüm der grauen Maus herausarbeitet und in der wundersamen „Show“-Nummer „Ich bin zu müde, um schlafen zu gehen“ (von der Knef und Charly Niessen) erotisch animierend zu einer Kindertrompete greift, um denn doch wieder den buchstäblichen Vorhang vor dem Objekt der Begierde zuzuziehen, wird die Theorie zum Tanzen gebracht, die im Programmheft ausgebreitet wird: „Jeder trägt“, schrieb Elisabeth von Thadden, „ den Zwiespalt, Nähe zu brauchen und doch in seiner Verletzbarkeit vor unfreiwilliger Nähe geschützt sein zu wollen, am eigenen Leibe aus“. „Where I end and you begin“ ist ein selbst in der Demonstration ultimativer Verklemmtheiten lustvolles Körpertheater, in dessen Nahverständnis die Übergänge so fließend sind, wie es Elias Reichert auf den Punkt bringt: Zwar sind wir alle durch kleinste vagierende Teilchen untrennbar miteinander verbunden, aber zwischen uns stehen jene Wände, durch die keine Hand durchzudringen vermag. Um diese nachvollziehbare Theorie zu belegen, hören wir Songs von den „Goldenen Zitronen“ (Lisa Mies, die scheinbar Robusteste unter den Figuren, singt „Wenn ich ein Turnschuh wär‘“ mit gutem trockenem Humor), Schkolink performt, mit Tortensahne im Gesicht (sie mag einfach keine Geburtstagsfeiern und -lieder, mögen sie auch noch so chaotisch durcheinander klingen) den melancholischen Walzer von Sophie Hunger, Elias Reichert tritt mit Burt Bacharachs und Hal Davids „Close to you“ (hier: „Nah bei Dir“) in solistische Erscheinung, und Maximilian Pulst darf als Einspringer Kunzes „Ich brauch dich jetzt“ bringen.

© Konrad Fersterer

Zusammen ist man manchmal stärker, aber auch allein klingt‘s richtig, wenn die wechselnden Stimmungen des Licht-Designers Günther Schweikart die Nummern zu einer charmanten wie nachdenklich machenden Revue verzaubern. Das Ende ist, man wundert sich nicht, eher skeptisch: „My body is a cage“ verklingt im optischen und akustischen Decrescendo. Was vorher war, war kurzweilig, vielfältig und klanglich sophisticated. Das Ende: Es musste wohl nach 75 Minuten kommen – auch wenn der heftige Beifall zwei Zugaben provozierte.

Frank Piontek, 25. Mai 2023


Where I end and you begin

Liederabend von Vera Mohrs und Fabian Schmidtlein

Premiere am 20. Mai 2022

Besuchte Vorstellung: 24. Mai 2023

Inszenierung: Sophia Bodamer

Musikalische Leitung: Vera Mohrs

Ensemble des Nürnberger Staatstheaters