Besuchte Vorstellung am 27.April 2018 (Europapremiere: 26.April 2018)
Vermächtnis
1973 gründete der Taiwanese Lin Hwai-min das Cloud Gate Dance Theatre in Taipeh, die erste Compagnie für zeitgenössischen Tanz im chinesischsprachigen Raum, die er als künstlerischer Leiter bereits 45 Jahre durch Höhen und Tiefen geführt hat. Mit seiner neuen, voraussichtlich letzten Choreographie kündigte er seinen Rückzug für 2019 an.
Erst nach einem Literatur- und Journalistikstudium in seiner Heimat und den USA, begann er in New York, sich ernsthaft dem Tanz zu widmen. Lin Hwai-min gilt heute als einer der bedeutendsten Choreographen, der asiatische Tanzkunst mit westlichem Ausdruckstanz verbindet. So führte er die Tanz-Traditionen seiner Heimat, der Peking-Oper sowie japanischer und koreanischer Hoftänze mit modernen Formen und einer Art des Qigong zusammen.
Mit dieser reichen Stilpalette schuf Lin Hwai-min mit „Formosa“ eine Eloge auf sein Heimatland, die Landschaft, die Menschen und ihr Leben. Dabei ist ihm, wie schon bei anderen Choreographien, stets das Wort ganz wichtig. So wurden mit sonor einschmeichelnder Stimme melancholische Gedichte (aus seiner Feder?) zu den Jahreszeiten sowie Fauna und Flora der Insel vorgetragen und passend von den Tänzerinnen und Tänzern interpretiert. Musik stand weniger im Vordergrund: Nur einige Trommeln, Flöten und Glöckchen untermalten streckenweise das Geschehen, während die Worte den Rhythmus vorgaben. Dass die Kalligraphie für ihn ebenfalls ein wichtiger Baustein ist, erkannte man an den Projektionen im leeren, schwarz-weißen Raum: Die an Rückwand und Boden projizierten Schriftzeichen und Texte zerfielen allmählich und unterstrichen damit auch den Zerfall allen Lebens und Wirkens.
Die Tänzerinnen und Tänzer leisteten Erstaunliches an diesem Abend. Die Bühne wurde 70 Minuten pausenlos betanzt; großstädtisches Nebeneinander wurde ländlichem Miteinander gegenübergestellt. Wie schon bei früheren Auftritten zu den „Movimentos“ begeisterten sie durch ihre unglaublich geschmeidige Beweglichkeit und Ausdruckskraft der Körper. Mit sanftem Schreiten sammelten sich zunächst einige Tänzer auf der Insel, die „wie ein Blatt am Rande des Pazifiks treibend“ geformt ist. Sie schienen die Freude über den Frühling und die Blumen aus sich herauszutanzen. Zur Beschreibung eines weißen Reihers im Reisfeld wurde ein zauberhafter Pas-de-deux getanzt; während alle Tänzer grau-verwaschene Shirts und Hosen trugen, war der „Reiher“ in ein weißes, langes und schmales Kleid gehüllt und bewegte sich sehr elegant. Zur Abwechslung folgte ein „Dialog“ zweier Gruppen, der sich teilweise zeitlupenartig aufbaute. Zu Gedichten über Libellen und Farnbüschel in den sommerlichen Bergen konnte man Schulkinder bei Morgenübungen erkennen. Zum Monsunregen im Herbst hetzten die Tänzer atemberaubend über die Bühne und trippelten zum Regen; stilisierte Kämpfe begannen, die in einem weiteren wunderbaren Pas-de-deux gipfelten.
Im Winter wechselten sich dann weiche und gleichmäßige Bewegungen mit kräftigem Stampfen ab, das in einen faszinierenden Kampf „jeder gegen jeden“ führte. Während die Schriftzeichen in Trümmer gingen, fielen alle Menschen zu Boden. Einige Momente hörte man nur Geräusche von Bomben und Beschuss; das totale Chaos war da. Ganz allmählich ließen die Geräusche nach, neues Leben erwachte, erste Schriftzeichen kehrten zurück, taumelnd und schwankend lebte die Menschheit wieder auf, ein Art Wiedergeburt. Schließlich versanken alle Worte im nun aufschäumenden Meer und die Menschen fanden sich wie zu ritualen Tänzen, bevor sie die hoffnungsvolle Szene nacheinander verließen. Das war ein spannendes Schlussbild, bevor man in die Anfangssituation zurückversetzt wurde.
Dass die Thematik schwieriger war als an anderen Abenden der Movimentos, merkte man an dem erst zögerlich einsetzenden Applaus, der dafür umso anhaltender den Tänzerinnen und Tänzern sowie dem Choreographen für den faszinierenden Abend dankte.
Marion Eckels, 28.04.2018
Fotos: © Chen-hsiang Liu (2), Matthias Leitzke (2)
Weitere Vorstellungen: 28. + 29.4.2018