Ein Paradebeispiel der sogenannten Neuen Sachlichkeit stellt die auf E. T. A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi beruhende Oper Cardillac aus der Feder Paul Hindemiths dar. Gemeint war damit die vermeintliche Objektivität der musikalischen Mittel in genau abgegrenzten Szenen (Booklet). Am 9. 11. 1926 in Dresden unter der musikalischen Leitung von Fritz Busch erfolgreich aus der Taufe gehoben, fand dieses Meisterwerk schnell seinen Weg in das Repertoire der Opernhäuser. Nach der Uraufführung sollte es bis 1933 noch 13 Folgeproduktionen geben. Dann verschwand das Werk unter der Ägide der bornierten braunen Machthaber erst einmal aus den deutschsprachigen Spielplänen. Ab 1946 erlebte es eine vielversprechende Renaissance. Bis heute ist diese bemerkenswerte Oper immer wieder in verschiedenen Opernhäusern zu sehen.
Die vorliegende Live-Aufnahme aus dem Münchner Prinzregententheater vom 13.10.2023 stellt eine wunderbare Hommage an den Dirigenten Stefan Soltesz dar, der im Juli 2022 während einer Aufführung von Strauss‘ Die schweigsame Frau am Pult der Bayerischen Staatsoper zusammenbrach und kurze Zeit darauf in einem Münchner Krankenhaus verstarb. Soltesz hat nicht viele Aufnahmen hinterlassen. Die vorliegende Einspielung, die am 7.7.2023 in den Handel gelangt, ist indes in hohem Maße geeignet, die Erinnerung an ihn als einen der besten und bedeutendsten Dirigenten der Gegenwart wachzuhalten. Aus diesem Grunde ist es auch dem Label BR KLASSIK hoch anzurechnen, das es diese Aufnahme nun einem interessierten Kreis von Opernliebhabern auf CD zugänglich gemacht hat. Schon Soltesz‘ ausgezeichnetes Dirigat ist die Anschaffung wert. Wie kein anderer versteht es der Dirigent in Zusammenarbeit mit dem großartig disponierten Münchner Rundfunkorchester, die musikalischen Strukturen von Hindemiths Komposition perfekt herauszuarbeiten und gekonnt in den großen musikalischen Zusammenhang zu stellen. Sein markantes und prägnantes sowie von einer trefflichen Diktion der Orchesterstimmen geprägtes Dirigat atmet große Spannung und weist zudem eine vortreffliche Transparenz auf. Behände fließt die Musik unter Soltesz‘ umsichtiger Leitung dahin, ohne dabei jemals zu schwer oder gar pompös zu wirken. Dennoch weist der Klangteppich ein Maximum an Intensität auf. Dieses Cardillac-Dirigat ist ganz hervorragend!
Fast durchweg zufrieden sein kann man auch mit den gesanglichen Leistungen. Das beginnt schon bei Markus Eiche, der mit prachtvollem, hellem und sonorem, dabei bestens italienisch fokussiertem und ebenmäßig dahinfließendem Bariton einen ausgezeichneten Cardillac singt. Ebenfalls bestens gestütztes, kraftvolles und höhensicheres Tenormaterial bringt Torsten Kerl in die Partie des Offiziers ein. Als Kavalier vermag der lyrische, über eine elegante Tongebung und sichere Spitzentöne verfügende Tenor von Oliver Ringelhahn eindrucksvolle Akzente zu setzen. Profundes Bass-Material bringt Jan-Hendrik Rootering in die Rolle des Goldhändlers ein. Solide klingt Kay Stiefermanns Führer der Prévoté. Die kraftvoll intonierende Michela Selinger legt die Dame recht dramatisch an. An das hohe Niveau ihrer Kollegen vermag Juliane Banse, die die Tochter gibt, nicht anzuknüpfen. Ihr unterkühlter, ganz und gar nicht im Körper verankerter Sopran enttäuscht voll und ganz. Eine famose Leistung erbringt der von Lukas Vasilek einstudierte Prager Philharmonischer Chor.
Ludwig Steinbach, 5, Juli 2023
CD: „Cardillac“
Paul Hindemith
Musikalische Leitung: Stefan Soltesz
Münchner Rundfunkorchester
BR KLASSIK
Best.Nr.: 900345
2 CDs