Gewogen – und für sehr gut befunden! – so mag man die Aufführung von Händels „Belshazzar“ in der Hamburger Laeiszhalle am 5. November überschreiben. Auch wenn Bibel-Puristen das als etwas konstruiert empfinden mögen, drängt es sich angesichts der großartigen Leistungen aller Mitwirkenden einfach auf, die Deutung der Flammenschrift, die dem babylonischen König Belsazar das nahe Ende verheißt, ins Positive umzuwidmen.
Das „Menetekel“ als verkürzte Form des biblischen „mənēʾ mənēʾ təqēl ûp̄arsîn“ aus dem Buch Daniel hat sich im Sinne einer unheilverkündenden Mahnung im deutschen Sprachbrauch auch in der verkürzten Formel „gewogen und für zu leicht befunden“ seit dem 15. Jahrhundert festgesetzt, aber wenige kennen den tatsächlichen Hintergrund und die eigentliche Bedeutung des ganzen Zitats. Eigentlich ist es ein Wortspiel, das nur im Hebräischen funktioniert, weil nach dem „gezählt, gewogen“ ein Wort folgt, das sowohl „geteilt“ bedeutet und sich auf die drohende Zerteilung des Reichs von Belsazar bezieht, als auch als „den Persern gegeben“ gedeutet werden kann. Die Meder werden die andere Hälfte erhalten.
Der tatsächliche Name des Königs ist „Bel-šarru-uṣur“, was „Bel (=Baal) beschütze den König“ bedeutet. Der babylonische Gott wird sich aber dem hebräischen JHWH als unterlegen beweisen und so obsiegt der Gott Israels.
Schon immer haben ganze Völker ihren oder „den“ Gott für die eigene Sache requiriert; vor vier bis fünf Generationen haben das unsere Vorväter und -mütter auch nicht anders getan. „Welch ein Sieg durch Gottes Führung“ – das war auf riesigen Bannern nach der Schlacht bei Sedan 1871 auch noch Jahrzehnte später am sogenannten „Sedantag“ überall im Reich zu lesen. War Gott deutschnational und haßte demnach die Franzosen, die er doch selbst erschaffen hatte? Allein in dieser konsequenten Weiterführung zeigt sich der ganze Irrsinn des Krieges und seiner Vereinnahmung des Religiösen.
„Belshazzar“ ist daher ein hochaktuelles Stück, denn das Ganze ist nichts anderes als „ein wetgeschichtliches Drama“, wie der Musikwissenschaftler Werner Oehlmann es nennt. Juden, Perser und Babylonier stehen sich gegenüber und jede der Gruppen sieht sich im Recht und vor allem im Besitz der Wahrheit. Als wie kurzsichtig solche Deutungshoheiten sich in der Praxis erweisen, zeigt der derzeit tobende Nahost-Krieg und seine polarisierte Rezeption im Rest der Welt. Es gibt nicht „die Juden“ oder „die Palästinenser“, aber es war schon immer einfacher, auf komplizierte Fragen simple Antworten zu geben und blockhafte Feindbilder eignen sich hervorragend zur eigenen Identitätsfindung, wenn es mit der Bildung und dem angewandten, selbstreflektierten Denken nicht so gut bestellt ist.
Für Händel und seine Zeitgenossen war völlig klar, daß „die Juden“ hier im Recht sind, wobei das ganze Alte Testament hier ohnehin nur als Vorläufer des „eigentlichen“, nämlich des Neuen Testaments vereinnahmt wurde. Das waren eben Juden, die den Messias noch nicht kannten und letztlich nur den Vorbereitungsteppich zur Erlösung ausgerollt haben. So einfach ist das aber nicht.
Matthias Janz und diejenigen, die das Konzert vorbereitet haben, beließen es bei den Bezügen zum 20. Jahrhundert dabei, Brechts Gedicht „Lied einer deutschen Mutter“ aus dem Jahre 1942 im Programmheft abzudrucken. Viel anderes ist bei einer nichtszenischen Aufführung wie der am 5. November auch nicht möglich, aber so entstand die Anregung zum Nachdenk, auch über die Art und Weise, wie Händel den Stoff verarbeitet hat. Im 18. Jahrhundert muß jede Art von musikalischer Reflexion über noch so existentielle Themen grundsätzlich eher artifiziell ausfallen. Zur Wiedergabe von deutlichen Emotionen und der Schilderung dramatischer Momente hatte William Walton in seinem Oratorium „Belshazzar´s Feast“ von 1931 ganz andere Möglichkeiten als der Barockkomponist. Nebenbei – warum wird dieses beeindruckende Werk eigentlich nie aufgeführt?
Händels musikalische Gestaltung ist nichtsdestotrotz dennoch ausgesprochen vielfältig, entsprechend dem Libretto von Charles Jennens, der sich neben der biblischen Vorgabe allerlei anderer antiker Quellen bediente. Rezitative, Arien und Chorpartien wechseln in rascher Folge ab und der gemischte Chor muß gleich drei Völker, nämlich die Juden, die Babylonier und die Perser darstellen.
Vor allem die Solopartien erhalten allein durch ihre Stimmlage jeweils einen sehr eigenen Charakter; die Solisten brillieren dementsprechend auch in der Laeiszhalle. In der Titelrolle glänzt mit durchdringendem Tenor Mirko Ludwig. Für Lord Byron war Belsazar jemand, der „unfähig zu herrschen, zu leben und zu sterben“ war. Bei Händel fällt er eher durch seine Oberflächlichkeit und Gier auf als durch finstere Bösartigkeit. Ludwigs Interpretation des babylonischen Herrschers ist ganz dementsprechend geprägt durch eine dekadente Sinnlichkeit. Als er in seiner Arie Nr. 33 „another bowl“ noch einen Kelch Weins verlangt, tut er das wie ein besoffenes großes Kind und erinnert dabei ein bißchen an Peter Ustinovs Darstellung des Nero in „Quo vadis?“. Seine Mimik, Stimmgewalt und ungemeine Präsenz geben den selbstgefälligen Machtmenschen der Lächerlichkeit preis. Er spielt den König eben auch und das gelingt ihm ganz hervorragend ebenso im Duett, beispielsweise mit Karola Sophia Schmid, die seine Mutter Nitocris gibt (Nr. 21). Die Blicke, die sich die beiden zuwerfen, sprechen Bände – einerseits ist da der fast kindliche Trotz, andererseits die Mahnung der Mutter, die ahnt, wie schlimm die Geschichte ausgehen wird. Die Sängerin verleiht der Rolle mit ihrem jugendlich hellen und wunderschön klaren Sopran eher den Charakter der Zeitlosigkeit. Das ist nicht das alte Mütterlein, das auf seine erzieherische Rolle reduziert ist, sondern eine Kassandra-Stimme, die alterslos zu Vernunft und Dialog aufruft.
Auch Wiebke Lehmkuhl als Daniel ist nicht der besserwisserische, altkluge Prophet, sondern ein in sich und seinem Gott ruhender junger Mann, der das, was er vorbringt, mit Überzeugung verkündet. Die großartige Altistin muß gestisch nicht viel tun, denn ihre Stimme dringt auch in den Piano-Passagen stets mühelos und glänzend durch. Jemand aus dem Publikum will seiner Begeisterung Luft machen und klatscht in ihre erste Arie hinein. Den Beifall hat die Künstlerin zweifellos verdient, aber man sollte das Stück schon kennen, wenn man sich zu solch einer Reaktion auf die Darbietung hinreißen läßt.
Der Countertenor Franz Vitzthum ist als König Cyrus zu erleben und wie er sich fast mit jazziger Geschmeidigkeit durch die Koloraturen schraubt, ist einfach grandios. Manche Sänger dieser Stimmlage neigen gerade in den Höhen zu einer gewissen männlichen Kehligkeit, aber Vitzthum klettert ohne jede Anstrengung in alle Lagen; zudem verleiht er der Rolle mimisch und gestisch eine wunderbare Lebendigkeit.
Stimmlicher Antipode dazu ist Yorck Felix Speer als Gobrias und später als Bote. Mit seinem warmen, tiefgründenden Baß vermittelt er glaubhaft die Trauer um den getöteten Sohn und die Anklage gegen den maßlosen Herrscher.
Diejenigen, die Matthias Janz kennen, schätzen seine Zugewandtheit und Freundlichkeit; so ist auch bei diesem Oratorium in den frohen Gesichtern gerade der Violinistinnen und Violinisten des Elbipolis Barockorchester Hamburg gleichsam wie im Spiegel Janz´ Begeisterung und Freude an der Leitung des Ensembles abzulesen. Der Dirigent führt mit der gleichen Hingabe Orchester, Chor und Solisten unprätentiös, aber mit großem körperlichem Einsatz. Manchmal tänzelt er fast, um die Lebendigkeit der Musik zu unterstreichen, mit dem Oberkörper gibt er in kippenden raschen Neigungen dem Wogen der großen Bewegungen greifbaren Ausdruck. Mit weiten Armbewegungen spornt er den Symphonischen Chor Hamburg zu Dynamiken an, die im ersten Akt noch etwas verhalten sind und sich dann in den beiden Folgeakten steigern. Der Klangkörper und das Orchester bilden einen bewußt transluziden barocken Klang, der noch nichts von der Schwere und Dramatik des 19. Jahrhunderts weiß. Besonders die Celli verstärken gerade in den emotional geprägten Partien den verbalen Ausdruck.
Aus dem Chor sind die drei Magier rekrutiert und Ann-Kathrin Rosenkranz, Harald Suntke Redenius und Christopher Karow können dem entsetzten Belsazar die feurige Schrift nicht deuten. Das braucht schon einen ausgemachten Propheten.
Alle Mitwirkenden ernten nach dem abschließenden „Amen“ herzlichen, langanhaltenden Applaus und vor allem für Matthias Janz sowie die Solistinnen und Solisten gibt es „Bravo!“-Rufe. Sie brauchen die große Wiege-Prüfung durch die Feuerhand nicht zu fürchten!
Andreas Ströbl, 6. November 2023
Georg Friedrich Händel
Belshazzar
Oratorium für Soli, gemischten Chor und Orchester
Hamburg, Großer Saal der Laeiszhalle
5. November 2023
Sopran: Karola Sophia Schmid
Alt: Wiebke Lehmkuhl
Countertenor: Franz Vitzthum
Tenor: Mirko Ludwig
Baß: Yorck Felix Speer
Musikalische Leitung: Matthias Janz
Symphonischer Chor Hamburg
Elbipolis Barockorchester Hamburg