St. Gallen: „Ernani“, Giuseppe Verdi

Ach, es wäre so einfach, die Handlung von Verdis ERNANI zu erzählen. Im Begleitheft meiner Schallplattenaufnahme (Price, Bergonzi unter der Leitung von Thomas Schippers) fasst To Burg diese mit ironischem Augenzwinkern so zusammen: Edler“Bandit“ will seinen ermordeten Vater rächen – König wird Kaiser, entsagt seiner Liebe – Starrsinniger Alter zwingt Liebespaar zum Selbstmord. Der Regisseurin dieser in Zusammenarbeit mit Opera Ballet Vlaanderen, Antwerpen/Gent entstandenen Produktion, Barbora Horáková, war die Handlung nach eigenen Aussagen zu kompliziert und zu fragmentarisch. Deshalb suchte sie nach einer neuen Lösung, um ein glaubwürdigeres Konzept zu erarbeiten. Und tatsächlich, auf dem Papier klang das überzeugend. Die Regisseurin wollte sich ganz auf den Titelhelden fokussieren, zeigt nun eine gebrochene Figur, einen total unsicheren, verängstigten Ernani, der offensichtlich an einer posttraumatischen Belastungsstörung (Krieg, Ermordung des Vaters, Unfähigkeit zu lieben), wenn nicht gar anzunehmender Schizophrenie leidet. Zur Seite stellte die Regisseurin dem Titelhelden eine zweite Figur, quasi eine Stimme aus seinem Innern. Dieses Alter Ego spricht verklausulierte, wunderbar poetische Texte, die Peter Verhelst extra für diese Produktion geschrieben hatte. Leider entschlüsselten sich mir die von Birgit Bücker wunderbar differenziert, mal heiser schreiend, dann wieder verführerisch und lockend flüsternd vorgetragenen Metaphern kaum. Irgendwie fand ich leider keinen plausiblen Ansatzpunkt, um die Schilderungen von rotierenden Sandsäulen, summenden Fliegen, Düften von Zitrus und rosa Pfeffer mit Ernanis seelischer Verfassung in irgendeine Verbindung zu bringen. Die, wenn auch kurz gehaltenen, Einwürfe dieses Alter Ego unterbrachen natürlich den Fluss der Musik immer wieder. Zwar ist Verdis ERNANI eine konventionell angelegte Nummernoper, mit traditioneller Abfolge von Kavatine und Kabaletta, Duetten, Terzetten, Ensembles mit effektvollen Chorfinali, die immer wieder zu Zwischenapplaus führen können (er war in dieser Premiere eher verhalten). Am schlimmsten war der Unterbruch im dritten Akt, genau an einer der spannungsgeladenen Stellen: Don Carlos tritt als frischgewählter Kaiser Karl V. aus der Kaisergruft in Aachen. Hier die Bühne dunkel werden zu lassen und Birgit Bücker einen Text (über Umkehr, Vergessen und das Ablegen alter Gewohnheiten) vom Bühnenrand aus rezitieren zu lassen, ist meines Erachtens ein Verbrechen gegen die Musik und deren Spannungsaufbau.

(c) Edyta Dufaj

Es ist das große Verdienst aller Ausführenden, dass sie nach diesen Unterbrüchen immer wieder die musikalische Spannung erneut aufbauen und mit wunderbarer Sensibilität erfüllen können. Das Sinfonieorchester St. Gallen unter der ruhigen, unaufgeregten Leitung von Modestas Pitrenas spielt mit wunderbarer Feinfühligkeit. Modestas Pitrenas lässt sich nicht zu knalligen Effekten und vordergründiger Schmissigkeit verleiten, gibt den Sängern genügend Raum und Zeit, um ihre Phrasen auszuführen; da ist nichts überhastet und keine Gefahr in eine Art von plakativ aufziehendem Bruitismus zu verfallen, zu dem der junge Verdi an gewissen Stellen durchaus noch neigte. Alle drei Interpreten der männlichen und die Interpretin der einzigen weiblichen Partie in der Oper überzeugten durch intensive Rollengestaltung und Charakterisierung ihrer vokal sehr anspruchsvollen Partien. Die Nebenrollen wurden aus der Masse heraus gesungen, erhielten kein eigenes Profil und somit auch keinen Namen, sie werden als Sopran Solo (Kali Hardwick), Tenor Solo (Sungjune Park) und Bass Solo (Msimelelo Mbali) im Besetzungszettel aufgeführt.

(c) Edyta Dufaj

Christopher Sokolowski ist ein überaus glaubwürdiger, intensiver Darsteller des Ernani. Er zeigt diesen von inneren Dämonen getriebenen, verstörten jungen Mann mit eindringlicher, präsenter Körperlichkeit (er ist praktisch pausenlos auf der Bühne zu sehen). Sein einnehmend timbrierter Tenor klingt im Verlauf des Abends immer befreiter. Es ist überaus wohltuend, dass er an keiner Stelle forciert, sondern mit natürlicher, perfekter Stütze der Stimme und mit dynamisch fein abgestufter Tongebung die Rolle auszufüllen vermag. Mit ebenbürtiger Emphase überzeugen auch seine beiden Gegenspieler: Vincenzo Neri bleibt den herrlichen Kantilenen, den ungestümen Wutausbrüchen und der später als Kaiser ausgeübten Milde nichts an baritonaler Ausdruckskraft schuldig. Krystján Jóhannesson gibt einen kämpferischen de Silva, erfüllt die unnachgiebige Härte dieses Granden mit kernigem, kraftvoll intonierendem Bass. Der großgewachsene Sänger ist eine beeindruckende (für die Rolle fast zu jugendlich anmutende) Erscheinung, angst- und respekteinflößend in seinem paramilitärischen Outfit. Sylvia D‘ Eramo gestaltet die Elvira mit sicher und schön timbrierter Sopranstimme; in der Auftrittskavatine und der nachfolgenden Kabaletta legt sie an einigen Stellen noch ein bisschen viel Druck auf ihre Stimmbänder, so dass ein etwas metallischer Schatten auf die Töne fällt. Doch später in den Ensembles und den Duetten und Terzetten klingt ihre Stimme immer befreiter. Ihr engagiertes Spiel lässt sie zur Sympathieträgerin der Oper werden.

(c) Edyta Dufaj

Ein ganz großes Lob gebührt dem Chor des Theaters St.Gallen und dem Opernchor St. Gallen, die ihre dankbaren Auftritte mit Verve und Perfektion zu singen vermögen und das Publikum zu Recht mitreißen. (Einstudierung: Franz Obermair).

Auch wenn ich mit den Texten von Peter Verhelst und den damit verbundenen Unterbrüchen im musikalischen Fluss so meine Mühe hatte, war die Inszenierung und insbesondere die Personenführung insgesamt sehr eindringlich; dank der spannenden Videoprojektionen von Tabea Rothfuchs und dem bezwingenden Lichtdesign von Stefan Billiger an manchen Stellen gar von berückender Poseie erfüllt. Die Ausstattung von Eva-Maria Van Acker ermöglichte abwechslungsreiche, imponierende Bilder auf der Bühne, mit ihren drei aus jeweils 16 Lichtquadraten zusammengesetzten großen Quadraten, ihren (manchmal schmerzhaft in grellem Weiß blendenden) Leuchtröhren und den sich wie tektonische Platten verschiebenden Elementen auf der Bühne. Sogar das Bild mit der blauen und der roten Küche, in denen Elvira und Ernani durch de Silva getrennt gefangen gehalten wurden und nur die Seele Ernanis von einer Küche in die andere wandern konnte (und sich auch am Kühlschrank gütlich tat), hatte irgendwie was.

Das letzte Bild wurde von einem echt wirkenden, wie aus einer Körperwelten-Ausstellung stammenden, übergroßen Herzen dominiert. Es war unter Mithilfe von Kardiologen entstanden und konnte sogar pochen. De Silva versuchte am Ende in einem Kampf mit dem Riesenherzen dieses zum Stillstehen zu zwingen, vergeblich. Ist es das Herz Ernanis, in dem „der Hölle Rache“ trotz seines Suizids weiterkocht, oder ist die Liebe, die vom Herzen ausgeht, auch durch den Tod nicht besiegbar? Ja, es ist eine Inszenierung, die Fragen aufwirft, provoziert, zum Nachdenken anregt – also echtes Theater und nicht Kulinarik zum Zurücklehnen.

Kaspar Sannemann, 24. Januar 2024


Ernani
Giuseppe Verdi

St. Gallen

20. Januar 2024

Moderne Zusatztexte: Peter Verhelst
Regie: Barbora Horáková
Musikalische Leitung: Modestas Pitrenas
Sinfonieorchester St. Gallen