Essen: „NOW!“, Festival für neue Musik, Laissez vibrer

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Mit zwei spektakulären multimedialen Performances startete das 14. NOW! -Festival für Neue Musik in der Essener Philharmonie. Unter dem Motto „Laissez Vibrer“ können sich Freunde zeitgenössischer Musik bis zum 10. November auf 15 Konzerte mit zahlreichen Uraufführungen in der Essener Philharmonie, der Zeche Zollverein, dem Folkwang Museum und weiteren Spielstätten freuen.

„Laissez Vibrer“ (Lass es sanft vibrieren), mit diesem Fachbegriff aus der Schlagzeug-Werkstatt weisen Marie Babette Nierenz, die Intendantin der Philharmonie, und Prof. Günter Steinke von der Folkwang Universität als künstlerischer Leiter auf die thematische Offenheit des diesjährigen Festivals hin, das sich, so die Intendantin, an Qualität und Anspruch mittlerweile mit den bedeutendsten internationalen Festivals für Neue Musik messen kann.

© Filmarchiv Austria

Und Günter Steinke verbreitete mit seinem Melodram „Der Sandmann“ für Sprecher und sieben Instrumente gleich zu Beginn ein wenig Halloween-Stimmung. E. Th. A. Hoffmanns gleichnamige, von Ängsten und Traumata durchzogene Novelle, ein Paradestück „schwarzer Romantik“, straffte Steinke zu einem 45-minütigen Melodram mit von Gerhard Mohr eindringlich, aber bewusst nüchtern rezitierten Textausschnitten der Vorlage. Die hintergründige, immer unterschwellig bedrohliche Stimmung behielt sich Steinke für seine Vertonung vor. Auch wenn er sich nicht mit einer oberflächlichen klanglichen Illustration begnügen wollte, wirkte die Häufung grell instrumentierter, dynamisch explodierender Höhepunkte auf Dauer doch etwas plakativ. Gleichwohl sorgte er mit der siebenköpfigen, von Blech und Schlagzeug dominierten Besetzung für eine farbig schillernde, handwerklich vorzüglich gestrickte Klangfolie. Professionell ausgeführt vom vorzüglichen Stuttgarter „Ensemble Ascolta“ unter Leitung von Catherine Larsen-Maguire.

Die skurrile Liebe Nathanaels zur Puppe Olympia aus dem „Sandmann“ gehört auch zu den Episoden in Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“, die Max Neufeld 1923 als Stummfilm cineastisch umsetzte. Das im Wesentlichen völlig zerstörte Filmmaterial konnte auf geradezu abenteuerlichen und immens aufwändigen Wegen vom „Filmarchiv Austria“ soweit rekonstruiert werden, dass dem filmbegeisterten Komponisten und Dirigenten Johannes Kalitzke eine optisch hervorragende Vorlage für eine Vertonung zur Verfügung stand. Die wurde bereits mit dem Konzerthausorchester Berlin an der Spree aus der Taufe gehoben. Und das Berliner Orchester unter Leitung des ehemaligen Gelsenkirchener Generalmusikdirektors Kalitzke präsentierte das Projekt auch jetzt in der Essener Philharmonie.

Mit dem groß besetzten Orchester standen Kalitzke natürlich noch mehr Ressourcen an Klangfarben und dynamischen Feinheiten zur Verfügung als seinem Essener Kollegen. Gleichwohl ging es auch ihm weniger um klingende Illustrationen als um die psychischen Erdbeben der Handlung. Eine Vertonung, die, wie auch die Steinkes, Hoffmanns literarischer Welt nähersteht als der berühmten kongenialen Oper Offenbachs. Dabei folgt Kalitzke auch nicht minutiös den kleingliedrigen Filmschnitten, sondern schafft großräumige Stimmungsbilder von beeindruckender Ausdruckskraft.

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Als Aperitif durfte sich bereits eine knappe Woche vor dem offiziellen Beginn des Festivals die in Essen ansässige „Gesellschaft für Neue Musik Ruhr“ (GNMR) mit einem siebenstündigen Projekt präsentieren, das vor allem jüngeres Publikum anzog.

Erstaunlich, dass die GNMR, immerhin Gründungsmitglied des Festivals, bisher nie in die Programme einbezogen wurde. Dass sich eine weitere Zusammenarbeit lohnen könnte, bewies die Gesellschaft mit ihrem ersten Beitrag. Die Zentrale am multikulturell vitalen Viehofer Platz wurde zum Mittelpunkt eines mehrteiligen, den gesamten Platz einbeziehenden, äußerst abwechslungsreichen Events, das in lässiger Atmosphäre, gleichwohl mit hohen qualitativen Ansprüchen die besten Voraussetzungen erkennen ließ, um die Avantgarde aus dem viel zitierten Elfenbeinturm in eine größere Öffentlichkeit tragen zu können.

Die Vielfalt der Neuen Musikszene zeigte sich dabei u.a. in einem Wandelkonzert an vier zwischen Bars und Kirche angesiedelten Spielorten des Platzes, bei dem etwa Melchior Kupke mit elektronischen Cembalo-Klängen experimentierte oder das Ensemble „Part“ interdisziplinäre Musikaktionen kreierte.

Und abends prallten zwei konträre Welten der Avantgarde aufeinander. Einerseits extrem intime, oft an der Grenze des Hörbaren entlang schlendernde Kammermusik von Hyper-Sensualisten wie Salvatore Sciarrino, ausgeführt von drei Mitgliedern des Ensembles „Crush“, das sich vor elf Jahren aus ehemaligen Studierenden der Folkwang Universität zusammensetzt.

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Anschließend entfachten Philipp von Neumann und Theo Voerster vom „Deterministic Jitter Label Showcase“ mit zusätzlichen Gästen ein elektronisches Feuerwerk, das bis an die Schmerzgrenze reichte, dem sich ein DJ-Set mit offenem Ende anschloss. So unterschiedlich die Darbietungen des anregenden Tages, so konzentriert und aufgeschlossen folgten die meist jungen Besucher den in 1000 Farben schillernden Darbietungen.

Insgesamt ein vielversprechender Prolog zum Hauptprogramm des Festivals, das Essen bis zum 10. November in ein Eldorado der Neuen Musik verwandeln soll.

Pedro Obiera 2. November 2024


Das Festival für Neue Musik
26. Oktober bis 10. November 2024
Philharmonie Essen

Günter Steinke, Der Sandmann
Johannes Kalitzke, Hoffmanns Erzählungen (Filmmusik UA)

31. Oktober 2024

Dirigat: Johannes Kalitzke
Konzerthausorchester Berlin

Infos und Tickets: www.theater-essen.de