Stuttgart, Konzert: „Schwartz, Mahler“, Utopia Orchestra unter Teodor Currentzis

Der 1965 im kalifornischen San Diego geborene Jay Schwartz präsentierte im Beethovensaal seine „Passacaglia – Music for Orchestra IX“. Teodor Currentzis dirigierte das mit Verve und großer dynamischer Energie agierende Utopia Orchestra dabei wie aus einem Guss. Hier reflektiert Schwartz seine eigene Geschichte im Kontext der Gesellschaft. Auch Schwartz versteht sich dabei als „Wanderer“. Das zeitlose Problem der Migration und der Emigration wird dabei nicht ausgespart. Dies geschieht in schroffen, wilden Klängen mit Glissando- und Tremolo-Passagen der Bläser und Streicher. Diese elektrisierenden Effekte gehen unter die Haut. Schwartz wählte dafür die Form der Passacaglia als Sinnbild der musikalischen Wanderung. Er charakterisiert den Wanderer in seiner Musik mit einem siebentaktigen Zitat aus dem romantischen Liedschaffen Franz Schuberts. Man denkt dabei auch an Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“. Gedanken des Sich-Wandelns und Verwandelns werden hier in fiebrige Klänge umgesetzt. Das ist von faszinierender Wirkungskraft. Man trifft auf Schuberts Lied „Du bist die Ruh“ auf einen Text von Friedrich Rückert. Die sieben Takte werden auf eine zwölfmalige Reise endloser Glissandi geschickt. Die subtilen dynamischen Abstufungen sind wirklich bemerkenswert.

© Gyunai Musaeva

Anschließend bot Teodor Currentzis mit dem hervorragenden Utopia Orchestra eine überaus feurig-hitzige Interpretation von Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 5 in cis-Moll. Auch dies war eine gewaltige Wanderung. Die starkbesetzten Bläser bestimmten dabei das Klangbild, obwohl Teodor Currentzis durchaus auf harmonische Durchsichtigkeit achtete. Der Hang zum Gigantischen wurde nicht geleugnet. Das krampfhafte Über-sich-selbst-Hinauswollen stellte er aber nicht übertrieben dar. Wie ein Kolossalgemälde Makarts meißelte Currentzis die monumentalen Ausbrüche immer wieder heraus. Der Gegensatz zwischen einem einsamen Ich und der Welt trat grell hervor. „Die Neugestaltung der Welt aus dem eigenen Ich“ im Sinne Paul Bekkers gewann dabei an Deutlichkeit. Der erste Satz besaß als „Trauermarsch, streng wie ein Kondukt“ klare Präsenz. Der Ton schmerzlich-duldender Klage verflüchtigte sich nicht. Hervorragend wurde das elegische Hauptthema der Streicher nach dem Pomp funebre betont. Nach wildem Aufbäumen erklang dann wieder die ergebene Marschweise – gefolgt jetzt von der wunderbaren Verheißung jener Melodie, die Mahler in seinen „Kindertotenliedern“ um die Worte vom „Freudenlicht der Welt“ zitiert hat. Der leidenschaftliche Anstieg sank in schmerzlich-erschütternde Resignation zurück. Stürmisch bewegt jagte dann der zweite Satz in a-Moll heran, selbstquälerisch und anklagend zugleich. Nach dem Ausbruch der Naturgewalt verkündeten Celli in bewegender Weise die Trostmelodie, in der das Schlussthema des ersten Satzes merklich nachklang. Doppelt gewaltsam meldete sich wieder die Anklage und stürzte dumpf in sich zusammen. Teodor Currentzis beschwor dabei ein erschütterndes Seelendrama. Über dem Paukenwirbel erklang eine wehmütig-versöhnliche Melodie und schwoll immer zuversichtlicher zu sieghafter Gebärde an. Nach der Auflehnung trat endlich Ruhe ein. Ein Choral verkündete schließlich in überwältigender Pracht die Überwindung aller Schmerzen. Auch die erdnahe Daseinsfreude des Scherzo-Satzes mit dem Hornmotiv in D-Dur erfasste Currentzis mit dem Utopia Orchestra ausgezeichnet. In die nicht übertrieben aufstampfende Tanzmelodie klangen Naturlaute, lustige Hornrufe und gefühlvoll-träumerische Weisen. Freie Variationen des Tonmaterials ließen bereits Schönberg erahnen. Beim Adagietto in F-Dur (das ja durch den „Tod in Venedig“-Film von Visconti berühmt wurde) dachte man bei Currentzis sofort an das Lied „Ich bin der Welt abhandengekommen“. Ganz zart, im subtilen Klang von Streichern und Harfe, wurde hier dieser Traum der Einsamkeit und Weltvergessenheit interpretiert. Ruhig-innige und sanft drängende Melodien wurden in berührender Weise ausgekostet. Grandios gelang Currentzis mit dem Utopia Orchestra auch das Finale. Energisch und froh behaupteten sich alle Themen, die nun in Rondo-Form aufgeboten wurden. Oft klangen Erinnerungen an die vorangegangenen Sätze auf. Die Doppelfuge mit Choral riss die Zuhörer zuletzt fast von den Sitzen, so stark wirkte diese wahrhaft überwältigende Selbstbestätigung des Schlusses. 

Als Zugabe erklang noch der Choral „Jesus bleibet meine Freude“ aus der Kantate „Herz und Mund und Tat und Leben“ BWV 147 von Johann Sebastian Bach, wobei das Utopia Orchestra sogar mitsang. Ein beglückender Ausklang.

Großer Jubel im Beethovensaal.

Alexander Walther, 3. November 2024

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Jay Schwartz: Passacaglia – Music for Orchestra IX
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 5

30. Oktober 2024

Liederhalle Stuttgart

Teodor Currentzis
Utopia Orchestra