CD: „Schostakowitsch und Mahler: Symphonien Nr. 10“

Das Hong Kong Philharmonic Orchestra (HK Phil) gilt als eines der führenden Orchester Asiens. Das Orchester absolvierte erfolgreich eine vierjährige Reise durch Wagners Ring-Zyklus. Die Konzertaufführungen und Live-Aufnahmen von Naxos wurden vom Publikum begeistert aufgenommen. Für diese Produktion wurde das Orchester mit dem Gramophone Orchestra of the Year Award 2019 ausgezeichnet – das erste Orchester in Asien, das diese Auszeichnung erhielt. Zusammen mit Jaap van Zweden, der seit 2012 Musikdirektor ist und in gleicher Funktion auch das New York Philharmonic leitet, tourte das Orchester durch Europa, Asien, Australien und China.

Diese beiden zehnten Sinfonien sind sehr persönliche Aussagen von Komponisten, die sich in der größten Krise in ihrem bewegten Leben befanden. Gustav Mahlers letzte und unvollendete Sinfonie wurde von seiner Witwe Alma viele Jahre nach seinem Tod geheim gehalten, zu persönlich empfand sie die musikalische Verarbeitung ihres Ehebruchs durch Mahler. Schostakowitschs intensive und zutiefst symbolische Sinfonie Nr. 10 wird vom Komponisten aus Angst vor sowjetischen Repressalien geheim gehalten und erst nach Stalins Tod 1953 aufgeführt.

Mahlers Tod im Jahr 1911 hat die Musikwelt erschüttert. Bald nach Mahlers Tod waren seine letzten beiden vollendeten Werke erstmals zu hören: die „Liedsinfonie“ Das Lied von der Erde (1907–09) und die Sinfonie Nr. 9 (1909–10). Für viele liegt in beiden Werken eine unverkennbare Note des Abschieds. Mahler sah sein eigenes Ende kommen. Dann kam die Entdeckung, dass Mahler 1910 eine weitere Sinfonie begonnen hatte. Mahlers Witwe Alma behielt den sinfonischen Torso bis 1924 unter Verschluss. Aber als sie es tat, wurde klar, dass zwei Sätze – das eröffnende Adagio und ein kurzer Satz mit dem Untertitel Purgatorio – kurz vor der Vollendung standen, um in voller Partitur präsentiert zu werden. Die Skizzen für die verbliebenen drei Sätze schienen zu verworren und unzusammenhängend, um ohne großen musikalischen Eingriff aufführbar zu sein.

Dank der akribischen Arbeit des britischen Musikwissenschaftlers Deryck Cooke wissen wir heute, dass Mahler viel näher dran war seine zehnte Sinfonie zu vollenden, als irgendjemand vermutet hatte. Mahler hätte die Zehnte vielleicht überlebt, wenn es nicht den Alptraum des Ehebruchs gegeben hätte, der ihn im Sommer 1910 getroffen hatte – die Entdeckung, dass seine angebetete Alma eine Affäre mit dem jungen Architekten Walter Gropius hatte. War das der Grund, warum Alma die Skizzen so fest im Griff hatte? Wie auch immer, Alma tat es.

Erst auf Bitten des Komponisten Ernst Krenek wurde eine Reinschrift des ersten Satzes des Adagios und des Purgatorios angefertigt. Alma schickte dann Kreneks Partitur an den Dirigenten Willem Mengelberg, einen von Mahlers treuesten Verfechtern, der seine eigene vorbereitete Version, Erweiterungen des Orchesters und einige Änderungen in Ausdruck und Tempoangaben gemeinsam mit dem Komponisten Cornelis Dopper vornahm. Mengelberg wurde heftig dafür kritisiert, aber er kannte wie wenige Mahlers Musik sehr genau. Von daher ist es äußerst spannend, nun erstmals seine Version zu erleben.

Jaap van Zweden hat bereits viel Erfahrung mit den Sinfonien Mahlers, die er oft dirigiert hat. Er wählt ein ausgewogenes Tempo für das berühmte Adagio. Das berühmte Hauptthema in den Bratschen wirkt bei ihm ungewöhnlich vital und freundlich. Von der ersten Note an ist zu erkennen, dass Zweden die Musik zu einem Zielpunkt führt. Die Musik fragt, atmet und reflektiert. Sie führt immer weiter nach vorne. Zweden erreicht hier als Interpret eine außergewöhnliche Dichte, die das HK Phil. kongenial trifft und perfekt umzusetzen weiß. Dies ist umso bemerkenswerter, da es sich bei dieser Einspielung um eine Live-Aufnahme handelt. Der große Streicherapparat nutzt die gesamte dynamische Bandbreite sehr gut dazu, viele Nuancen auszubreiten. Dies unterstreicht den erzählerischen Duktus dieser Fassung.

Insgesamt wirkt Mengelbergs/Doppers Partitureinrichtung dichter im Klang und verwendet öfters die Pauke, als dies in den anderen Versionen der Fall ist. Und er ergänzte weiteres Schlagzeug, wie z.B. Tamtam, Triangel, hängende Becken und große Trommel. Der tonale Verlauf dieses Satzes bleibt unangetastet, aber die Instrumentierung ist in ihrer viel höheren Klangdichte ein faszinierendes Hörerlebnis. Vielleicht haben wir es hier sogar mit der überzeugendsten Version des Adagios zu tun. Der berühmte Höhepunkt mit der bohrenden Solotrompete kommt hier als klangliche Apokalypse zu Gehör. Auch hier erliegt van Zweden nicht der Versuchung, die Musik auszubremsen, sondern er bleibt der eingeschlagenen Vorwärtsbewegung treu. Diese Variante polarisiert sicherlich auch heute noch einen Teil der Zuhörer. Dennoch, Mengelberg/Dopper sind mit ihrer Arbeit sehr dicht auf den Spuren von Mahlers Instrumentationskunst. Natürlich wirkt dadurch dieses Adagio viel diesseitiger als gewohnt, aber dies hat einen unwiderstehlichen Reiz, der den Zuhörer einfängt und mitnimmt auf eine der spannendsten Entdeckungsfahrten, die es gegenwärtig für die Freunde der Mahlerschen Musik gibt.Ebenso profitiert das kurze „Purgatorio“, der zweite Satz, von der Einrichtung der beiden Musiker. Es wirkt sehr viel kecker und ironischer als in den anderen Versionen. Auch hier wirkt die Instrumentation mit reichlich ergänztem Schlagzeug und offensiveren Bläsereinwürfen deutlicher an Mahler gemahnend. Faszinierend!

In diesem kurzen Satz gelingen Jaap van Zweden und seinem fabelhaften Orchester besonders eindrucksvolle Momente. Im Jahr 1953 fand die Uraufführung von Dmitri Schostakowitschs zehnter Sinfonie statt. Dieses Werk ist von zentraler Bedeutung. Hier wagt der Komponist sich aus der Deckung heraus und rechnet musikalisch mit dem Grauen der Stalin Zeit ab. Der weit ausschweifende erste Satz entwickelt ein Bild der Klage und des Wahnsinns. Im zweiten Satz fährt ein brutales Scherzo durch die Ohren der Zuhörer. Ein Portrait Stalins soll damit gemeint sein. Und wahrlich, eine furchtbare, infernalische Fratze wird hier in Töne gemeißelt, die gleich einer Panzerkolonne im großen Crescendo alles platt walzt. Eine Atempause gewährt der zurück genommene dritte Satz, der kontrastreich die Musik ins Kammermusikalische zurücknimmt. Im vierten Satz folgt ein Wechselbad der Gefühle. Die einleitende Oboe zeichnet eine trügerische Idylle. Dann stürmt die Musik wieder furios davon, Marschelemente treiben die Musik unerbittlich in ihr furioses, hämmerndes Ende. Die Herausforderung bei diesem Werk ist seine vielschichtige Unterteilung in immer wieder neue Themengruppen. Leicht kann es geschehen, dass die Sinfonie dann durchhängt. Jaap van Zweden gelingt es sehr überzeugend, dieses Werk klar zu strukturieren. Es wäre leicht, sich in den dunklen Abgründen des Werkes zu verlieren. Nicht so bei van Zweden, er sucht das Licht und Kantable, was ihm in den ruhigen Passagen gut gelingt. Ebenso begeistert er mit grellen Kontrasten, wie sie eher selten zu hören. So ist berühmte Allegro wild und brutal. Im größten orchestralen Getümmel sind hier noch viele Details zu hören, die sonst oft verschwinden.

Das Honk Kong Philharmonic ist ein Orchester von außerordentlicher Qualität. Brillant in allen Spielgruppen, vor allem in den Streichern und Bläsern. Holz- und Blechbläser musizieren charaktervoll und klanglicher Homogenität. Die Streicher musizieren hoch aufmerksam und dann wieder auch sehr ruppig und brüsk. Und auch das Schlagzeug Ensemble ist gerade in den Kulminationen kraftvoll zur Stelle.Der Schostakowitsch ist sehr gut und doch lohnt diese CD vor allem wegen der Erstaufnahme Mengelberg/Dopper Fassung von Gustav Mahlers zehnter Sinfonie. Besonderen Anlass zur Freude an dieser CD bietet die hoch dynamische Aufnahmequalität, die es mit jeder Hochpreis-CD aufnehmen kann.

Dirk Schauß, 25. November 2022


Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 10

Konzertversion Mengelberg, Dopper

Dmitri Schostakowitsch, Sinfonie Nr. 10

Hong Kong Philharmonic Orchestra

Jaap van Zweden, Leitung

Naxos: 8574372