Das also ist ein Shitstorm. Um 18.38 Uhr fing es an. Im Minutentakt gingen Nachrichten auf den E-Mail-Accounts der Redaktion ein, parallel auch einige wenige auf dem Facebook-Messenger. Das könnte man einfach über sich ergehen lassen. Irgendwann hört es sicher auf. Vereinzelt gab es Drohungen und Nötigungen („Wenn nicht, dann …“). Das lassen wir auf strafrechtliche Relevanz prüfen. Das Internet ist keine rechtsfreie Zone.
Gar nicht so wenige Nachrichtenschreiber haben ihre Empörung aber mit Anrede und Grußformel in ordentlicher Form vorgetragen, mitunter sogar den Beitrag, der ihren Zorn erregte, mit Anerkennung bedacht, wenn nur nicht dieser eine Satz gewesen wäre …
Das ist dann Anlaß genug, den Vorgang noch einmal intern zu prüfen. Zum konkreten Beitrag kommen wir sogleich. Jetzt wird es erst einmal kurz grundsätzlich. Was zeichnet eine Aufführungskritik aus? Nach meinem Dafürhalten (Sie merken schon: Ich kennzeichne vorsichtshalber die Subjektivität) soll eine Kritik beschreiben, was der Kritiker wahrgenommen hat (bereits das ist subjektiv!), um dies dann nach (seinen! subjektiven!) ästhetischen Kriterien einzuordnen. Eine Kritik ist damit niemals objektiv. Sie sollte aber immer ihre Maßstäbe offenlegen und dem Leser die Möglichkeit eröffnen, das Beschriebene nach eigenen Maßstäben womöglich anders zu beurteilen. Ich finde es auch immer hilfreich, einen (subjektiven!) Eindruck von den Publikumsreaktionen wiederzugeben.
Nun zum konkreten Fall: Unser Autor Dr. Dieter David Scholz, ein ausgewiesener Experte für das Werk Jacques Offenbachs und die Rezeption dieses Werks, hat eine Kritik zur jüngsten Premiere von Orpheus in der Unterwelt an der Musikalischen Komödie Leipzig verfaßt. Der Tenor entspricht dem Titel des von Scholz vor zwei Jahren herausgebrachten Sachbuchs: „Jacques Offenbach. Ein deutsches Missverständnis“. In meiner (subjektiven!) Zusammenfassung: Offenbachs utopische, ironisch-politische Satiren werden zu platten Schenkelklopfer-Operetten verharmlost. So auch in der Leipziger Neuproduktion. Seine ästhetische Grundhaltung zu Offenbachs Werk belegt der Autor in seiner Kritik mit Zitaten aus der Musikwissenschaft und zeigt im Detail, warum er unter Zugrundelegung dieses Maßstabs den Regieansatz der Aufführung für verfehlt hält. Er kritisiert „party- und slapstickhafte Comedy“. Dabei lobt er die musikalische Qualität, vergleicht insbesondere die Sängerin der Eurydike als „fulminante Koloratursopranistin“ mit der legendären Erna Sack, um dann zur szenischen Darstellung auszuführen:
„Ihr recht plump erotisches Spiel dagegen, gepaart mit geradezu obszön exhibitionistischer Zurschaustellung ihrer allzu üppigen, kaum verhüllten, nicht eben ansehnlichen Weiblichkeit grenzte ans Peinliche, was der ganzen Aufführung zum Nachteil gereichte, zumal die Phonstärke ihres Singens gewiss nicht im Sinne Offenbachs war und befremdete wie ihr häufig ordinäres Lachen.“
„Bodyshaming!“ schallte es uns da aus dem Shitstorm entgegen. Was ist das eigentlich? In Wikipedia findet sich folgende Definition: „Ein nicht wiederholter Akt, in dem eine Person ungefragt hauptsächlich negative Meinungen oder Kommentare über den Körper des Opfers (Größe, Form, Gewicht, Körperteile, mit dem Körper zusammenhängendes Erscheinungsbild, Extremitäten usw.) abgibt“.
Nun, ganz „ungefragt“ hat der Kollege Scholz seinen Kommentar nicht abgegeben, denn schließlich hat er sich die Aufführung als Kritiker angesehen. Die Frage ist vielmehr, ob hier ein „mit dem Körper zusammenhängendes Erscheinungsbild“ ein ästhetischer Parameter ist. Dann darf es nicht nur kommentiert werden, dann muß es kommentiert werden. Da das Wort „Comedy“ schon gefallen ist, mag folgendes Beispiel hilfreich sein: Die Komikerin Ilka Bessin hat die Figur „Cindy aus Marzahn“ erfunden. Diese wird im zugehörigen Wikipedia-Beitrag wie folgt beschrieben: „eine übergewichtige Langzeitarbeitslose aus Berlin-Marzahn“, welche „durch eine pinkfarbene Kleidung und ein Diadem ein ironisches, zum Scheitern verurteiltes Prinzessinnen-Image“ pflege. „Übergewichtig“ und „zum Scheitern verurteilt“: Das ist Bodyshaming, oder? Und nun versuchen Sie einmal, das Wesen dieser Kunstfigur zu beschreiben, indem Sie „negative Meinungen oder Kommentare über den Körper des Opfers (Größe, Form, Gewicht, Körperteile, mit dem Körper zusammenhängendes Erscheinungsbild, Extremitäten usw.)“ weglassen. Es funktioniert nicht. Warum? Weil eben diese körperlichen Merkmale und ihre Zurschaustellung als künstlerische Mittel eingesetzt werden.
Genau so hat es der Kollege Dr. Scholz bei der Kunstfigur (!) Euridyke wahrgenommen. Für ihn wurde in der Darstellung der Figur „allzu üppige“ Weiblichkeit „kaum verhüllt“ und damit „geradezu obszön exhibitionistisch“ zurschaugestellt. Er empfand das als „unansehnlich“ und „ans Peinliche“ grenzend. Die Kritik gilt also nicht den Körpermaßen der Sängerin an sich, sondern deren bewußtem Einsatz durch die gewählte Art der Darstellung. Scholz schreibt nicht: „Füllige Sängerinnen sind unansehnlich und peinlich“, sondern die von ihm so (subjektiv!) wahrgenommene „obszön-exhibitionistische Zurschaustellung“ widerspreche seinen (subjektiven!) ästhetischen Maßstäben, was zu seinem Urteil „unansehnlich“ führt.
Auch in der dicht gedrängten Aneinanderreihung wertender Adjektive in der beanstandeten Passage ist für den verständigen Leser klar, daß hier die Art der Verwendung von Körperlichkeit bewertet wird und nicht die Person der Sängerin. Wer etwa die Körpermaße einer Politikerin wie Riccarda Lang bewertet, liegt neben der Sache, wer aber den Einsatz eines bestimmten Körpers als Mittel künstlerischer Darstellung (subjektiven!) ästhetischen Bewertungen unterzieht, versieht einfach nur seine Aufgabe als Kritiker.
Daher liegt eine exemplarische Zuschrift innerhalb des Shitstorms besonders auffällig daneben:
„Fürchterlich! Zumal die „exhibitionistische Zurschaustellung“ sicherlich nicht die Wahl der Darstellerin war, sondern von der Inszenierung verlangt, ebenso wie das „ordinäre Lachen“. Ihr daraus einen Vorwurf zu machen, es als „peinlich“ zu bezeichnen, zeugt nicht gerade von Sachkenntnis der Opern- und Theaterwelt. Einfach unterirdisch!“
Soll denn die Bewertung einer Inszenierungsidee deswegen unterbleiben, weil die sie ausführende Darstellerin sich das persönlich zu Herzen nehmen könnte?
Ja, höre ich die Shitstormer rufen, denn für ihre Körpermaße kann die Sängerin schließlich nichts. Man möchte erwidern: Ein anderer Sänger kann auch für seine häßliche Stimmfarbe nichts, für sein Unvermögen, den Takt zu halten oder die richtigen Töne zu treffen. Soll man das alles deswegen beschweigen? Wenn Sie das so sehen, dann, bitte, lesen Sie einfach keine Kritiken! Auch wer als Künstler Wertungen nur dann erträgt, wenn sie positiv sind, möge diese journalistische Gattung meiden. Und sollte sich überhaupt überlegen, ob er (generisches Masculinum) nicht den falschen Beruf ergriffen hat:
„If you can’t stand the heat, get out of the kitchen“.
Michael Demel, 27. Mai 2025
PS: Wir bitten um Verständnis bei den Verfassern der zahlreichen zustimmenden, ablehnenden und differenzierenden Zuschriften und Kommentare, daß wir allenfalls in Ausnahmefällen persönlich antworten können.
Daß darunter höhnische, herabwürdigende und persönlich beleidigende Bemerkungen sind, können wir wegstecken. Das Zitat zur Hitze in der Küche gilt auch für uns. Immerhin zeigen diese Schmähungen, daß es eine Gruppe gibt, die man sowohl wegen ihres Alters als auch wegen ihrer Hautfarbe und ihres Geschlechtes beschimpfen darf: die „alten weißen Männer“, die bereits strukturell grundsätzlich im Unrecht sind.