„Am Schluss kommt schier die Decke des schönen, alten Theaterschuppens (…) herunter. Die Kronenleuchter wackeln. Das Publikum ist außer Rand und Band. Frenetischer Beifall, Johlen, Trampeln und Schreie des Entzückens. Es ist, als hätte die leichte Muse des pfiffigen Musicals das pompöse Haus endlich wieder laut geküsst. Das Theater (…) wackelt schier selig in seinen Grundfesten.“

Vergisst man einen Moment, dass der große Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft im Oktober 1985 die Premieren-Reaktion auf die deutsche Erstaufführung des Werks im Theater des Westens festhielt, könnte man genau diese Sätze auch an den Schluss oder Anfang einer Rezension über die Nürnberger Neuinszenierung des Cage aux Folles setzen. Der begeisterte Applaus endet erst, als die letzten Zuschauer über den Klängen der instrumentalen Zugabe („Die schönste Zeit“) den Raum verlassen haben – so euphorisch wurden die Darstellerinnen und Darsteller am Abend gefeiert. Kein Wunder: La Cage aux Folles, das erste Mainstream-Musical, in dem ein homosexuelles Paar (und viele Drag Queens) im Mittelpunkt steht bzw. stehen, dieses Musical macht auch an der Pegnitz volle Kassen. Denn die Besetzung ist so fantastisch wie wie Story nach wie vor mitreißt – von der Güte der Musik, die sich (glücklicherweise, der Opern- und Musicalfreund verhehlt das nicht) eher auf die melodienseligen und instrumentatorisch farbigen 60er als die frühen 80er bezieht, von der Güte der Songs und der Entr’actes, die ja auch über Wohl und Wehe des Werks bestimmen, einmal abgesehen. Die Mitglieder der Staatsphilharmonie Nürnberg spielen unter Jürgen Grimm zu den eingedeutschten Songs einen Sound heraus, als hätten sie nie etwas Anderes gemacht. Sie rocken zusammen mit den Sängern und Tänzern das Publikum – wenn nicht Zaza am Ende des ersten Akts in ihrem schier bezwingenden Solosong „I am what I am“ die Herzen erobert.

In Nürnberg ist der Superstar der Riviera „Zaza“ Gaines Hall. In Nürnberg war er bereits vor 11 Jahren der Gene-Kelly-Nachfolger in Singin’ in the rain, zuletzt 2022 in Haispray zu erleben – noch so einem Supermusical über die Kraft der Liebe und die Notwendigkeit des Gewährenlassens. „Randgruppen“, so nannte man das in finsteren Zeiten. Wenn heute, nach über vier Jahrzehnten das Musical über die Autonomie der Schwulen, von Neuem auf die Bühne(n) kommt, haben wir es mit einer Zeit nach jener Zeit zu tun, in der die Schwulen- und Lesbenrechte, abgesehen von den Angriffen einiger Unverbesserlicher, ein für allemal gesichert schienen. Heute, da von staatlicher Seite die Rechte der LGBTQ-Gesellschaft selbst im „zivilisierten“ Europa zentral bedroht werden, hat La Cage aux Folles (wie The Adventures of Priscilla, Queen of the Desert und einige andere Meisterwerke des Genres) leider wieder jene Bedeutung, die es zu Beginn der 80er Jahre hatte. Die Regisseurin Melissa King, die Priscilla – Königin der Wüste 2027 (ein unvergesslicher Abend) am Gärtnerplatz inszenierte, King aktualisiert die Handlung, indem sie in einer Showszene die größten Gegner der liberalen Demokratie, also Putin, Orban, Weidel & Co., mit Pappmasken paradieren lässt. Am Ende entern die Tänzer und Tänzerinnen des Abends den Zuschauerraum, schwingen Fahnen und verteilen Werbezettel für die nächste Nürnberger Pride Parade. Muss das sein? Ich bin nicht sicher, aber da das „alte“ Musical, leider, zusehends an jener Dringlichkeit das wiedergewinnt, was ihm an musikalischer power nie fehlte, muss offensichtlich gehobelt werden, dass die Späne fliegen. Ich glaube allerdings nicht, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer über den Eigenwert von Liebe und Seinlassen – um das problematische Wort „Toleranz“ zu vermeiden – aufgeklärt werden müssen. Die Botschaft des guten Stücks ist da schon klar genug – und die Show wie die intimen Momente so stark, dass sich jeglicher Zweifel über die Botschaft des Werks von selbst erledigt. Es wäre natürlich schön, wenn Leute wie der intolerante Schwiegervater in spe, also Edouard mit dem beziehungsreichen Familiennamen „Dindon“, die Vorstellungen besuchen würden. Ja, liebe Hasser, auch im Musical kann man noch viel lernen.

Dass der Abend hinreißend wie bewegend gelingt, liegt zuallererst an den Protagonisten. Hall spielt eine Diva, die als Albin in den richtigen Momenten nicht divenhaft auftritt, sondern uns menschlich seht nah kommt. Ihr Lebenspartner, der Nachtclubbesitzer Georges ist Martin Berger; er spielt ihn als liebenswürdigen, eher teddybärenhaften Menschen, mit einer schönen lyrischen wie unaufgeregten Stimme, die zusammen mit Halls Tenor eine perfekte Einheit bildet; ihr zärtliches, vom Akkordeon akzentuiertes und gleichsam südfranzösisches Liebeslied gehört zu den leisen Höhepunkten des Abends. Großartig auch die „Zofe“ Albins, eine Tunte wie aus dem Bilderbuch der Dragqueenkultur: der großartig aufdrehende Terry Alfaro ist, pardon, einfach nur geil, wenn er sich, versehen mit mit künstlichen Brüsten, in die grellsten Outfits schmeißt. Ebenso großartig, aber völlig anders: Fabio Kopf als Jean-Michel, der Sohn des Paars, der in eine „ganz normale“ Ehe hineingehen möchte – und sich am Ende doch selbstbestimmt zum einzig Richtigen bekennt. Seine Angebetete, des Reaktionären Töchterlein, steht ihm an Power, Witz und Charme schließlich in Nichts nach: Anne Hirzberger – voilà! Und selbst der Papa hängt schließlich im Grand Finale, freiwillug-unfreiwillig, gelind lustvoll von der Decke herab: Thorsten Tinney – nochmal Voilà!
Man müsste nun alle Cagelles (Madame Ovary, Doris Klitoris und wie sie alle heißen)nennen, die während der und zwischen den Shows die Bühne bevölkern und eine tolle, auch toll, also farbenfroh-glitzernd ausgestattete Revue produzieren. Ich belasse es bei der pauschalen Nennung ihrer Namen: Alan Byland, Anneke Brunekreeft, Johan Vandamme, Rhys George, Alessandro Ripamonti, Ellie van Gele, Jan Eike Majert, Christopher Bolam und Tim Schmidt. Frei nach Gertrude Stein: A show is a show is a show. Wäre ich ein Nachtclubbesitzer, ich würde, bei vorhandenem Kleingeld, diese Truppe sofort engagieren (und Melissa King als Choreografin gleich dazu).

Sie tanzen über eine Bühne, deren sich immer wieder verschiebende Wände, so wie Albins und Georges Anzüge, mit Pimmeln und Muschis, pardon: mit Penissen und Vulven und so reich wie symbolisch-realistisch verziert sind. Die Ausstattung ist schon die Aussage; sie ist liberal – und bezieht sich auf die Liebe und Verliebtheit („Verliebt“, so steht’s schon auf dem Vorhang), nicht auf irgendwelche einseitig bevorzugten Geschlechter. Auf der von Stephan Prattes (er entwarf auch die typisch flamboyanten Kostüme) erdachten Bühne steht auch ein etwa vier Meter hoher Schwanz. Im Gegensatz zu dem der tönern herumsitzenden Kunsthunde wackelt er manchmal – wenn er nicht, das ist noch lustiger, mit einem schwarzen Riesenkondom verhüllt und von einem Kruzifix geziert wird, weil man zwischenzeitlich eine katholische Horrorkammer für die zukünftigen Anverwandten des Sohnemanns einrichtet. In diesem Interieur findet also die Geschichte statt, die nachvollziehbar interessierende und wunderbar menschelnde Geschichte von Albin „Zaza“ und Georges, von Jean-Michel und Anne und all den Anderen. Wie sagte Heine? Es ist eine alte Geschichte, doch ist sie immer neu. In Nürnberg feierte La Cage aux Folles eine fröhliche und nach wie vor zum Nachdenken und -fühlen animierende Auferstehung. Wie gesagt: Das Theater wackelt schier selig in seinen Grundfesten – auch an der Pegnitz
Frank Piontek, 14. Juli 2025
La Cage aux Folles
Jerry Herman
Staatstheater Nürnberg
13. Juli 2025
Premiere am 21. Juni 2025
Inszenierung: Meliassa King
Musikalische Leitung: Jürgen Grimm
Staatsphilharmonie Nürnberg