Zum Auftakt der neuen Musiktheatersaison lädt das Theater Hagen in den China-Thai-Vietnam-Schnellimbiss „Der goldene Drache“ ein, der auf der Hauptbühne platziert ist und von drei Seiten ebenda von Zuschauerrängen umgeben ist. Anlass ist das neue Format „Close up“, auf Deutsch etwa „nah dran“, bei dem Ausführende und Publikum dicht beieinander sind. Moderne Theater haben dafür flexible Spielstätten, aber das Hagener Theater als klassisches Theater richtet dafür die Hauptbühne ein, die trotz der großzügig ausgerichteten Ränge eine große Spielfläche bietet. Man stellt erstaunt fest, dass diese Bühne mindestens genau so groß, auf jeden Fall aber viel höher als der Zuschauersaal ist. Das Orchester bleibt an seinem angestammten Platz, aber auf Bühnenniveau angehoben und zur Bühne gerichtet.

Der goldene Drache beruht auf dem gleichnamigen Schauspiel von Roland Schimmelpfennig, das 2009 in Wien uraufgeführt wurde. Der Autor und der aus Ungarn stammende europäische Komponist Peter Eötvös (1944-2024), den die Hagener durch seine 2023 aufgeführte Oper Tri Sestri kennen, haben die ursprünglich 45 Szenen auf 22 kondensiert. Das Musiktheater – so die Gattungsbezeichnung des Komponisten – wurde 2014 in Frankfurt/Main uraufgeführt und erlebte anschließend weitere Aufführungen. Das herausstechende Merkmal ist die Aufteilung der 17 Rollen auf zwei Sängerinnen und drei Sänger, wobei eine Sängerin hauptsächlich nur eine Rolle spielt, nämlich den Kleinen, ein Chinese, der in ebenjenem Schnellimbiss in der Küche schuftet. Die vier anderen spielen Ältere und Jüngere, Männer und Frauen, Ameise und Grille. In den eineinhalb Sunden Aufführungsdauer gibt es also häufige Szenen- und Kostümwechsel, was die Ausführenden neben der nicht leichten Musik vor zusätzliche Herausforderungen stellt. Aber diese haben sie mit Bravour gemeistert. Namentlich sind dies Nike Tiecke (der Kleine), Angela Davis (u.a. alte Frau, Enkeltochter, Ameise), Anton Kuzenok (u.a. Kellnerin, Großvater, Grille), Richard van Gemert (u.a. Stewardess Eva, Freund der Enkeltochter) und Kenneth Mattice (u.a. Stewardess Inge). Übertitel gibt es nicht, aber da Eötvös sich sehr an der Sprachmelodie orientiert, sind die Texte größtenteils gut zu verstehen.
Die 17 verschiedenen Rollen ergeben sich aus den verschiedenen Handlungssträngen, die eher mehr als weniger unabhängig voneinander ablaufen. Als Rahmenhandlung kann man eben jenen Schnellimbiss nennen, in dem alle fünf als Köche angestellt sind. Als ihre einzigen Gäste kommen im Laufe des Abends nur zwei (von Männern gespielte) Stewardessen, die sich nach einem achtzehnstündigen Flug nichts mehr zu sagen haben.

Außerdem gibt es unter anderem einen jungen Mann, der seine Freundin verlässt, nachdem er sie ungewollt geschwängert hat, und die Fabel von Ameise und Grille, bei der die Ameise die hungrigen Grille als Gegenleistung für Essen zur Prostitution zwingt, was der junge Mann brutal ausnutzt. Es geht also um Ausbeutung auf verschiedenen Ebenen: Die Migranten, die zum Niedrigstlohn im Imbiss schuften und sich keine Zahnbehandlung leisten können, sexuelle Ausbeutung und das Machtgefälle derer, die Nahrungsmittel besitzen, gegenüber den Hungernden. Der Schlüsselmoment ist vielleicht die Erinnerung einer der Stewardessen, wie sie vor der senegalesischen Küste aus dem Flugzeugfenster blickt und ein Boot entdeckt – ein Hinweis auf den wohl gefährlichsten Seeweg für Migranten, auf dem schon tausende auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln ertrunken sind.
Bespielt wird nicht nur die Hauptebene, sondern auch die luftige Höhe und vor allem die Unterbühne, wo ein chinesisches Lebensmittellager eingerichtet ist, wohin ein Kameramann den Protagonisten folgt. Dort unten finden die unangenehmeren Dinge statt. Die Live-Bilder werden auf Monitore übertragen, auf denen sonst auch kurze Szenenbeschreibungen oder unterstützende Videos zu sehen sind. Berührend hingegen die Szene, in der der Kleine mit seinen chinesischen Verwandten telefoniert, die in seiner Zahnlücke sitzen, und sein Schlussgesang. Für die Bühne, Kostüme und Videos ist Iris Holstein verantwortlich, für die lebendige und anschauliche Inszenierung Julia Huebner.

Die Komposition von Eötvös ist absolut modern und sucht sich nie einzuschmeicheln. Aber sie ist durchaus illustrativ und gibt Stimmungen gut wieder, geht dabei bis ins Geräuschhafte. Das vierzehnköpfige Orchester besteht aus solistischer Besetzung nahezu aller Instrumente des Orchesters, wobei die zwei Schlagzeuger eine umfangreiche Auswahl an teils exotischen Instrumenten zu bedienen haben und damit pausenlos beschäftigt sind. Die Mitglieder des Philharmonischen Orchesters Hagen erfüllen ihre vertrackten Aufgaben mit höchster Präzision. Steffen Müller-Gabriel hält alle musikalischen Fäden routiniert zusammen. Peter Eötvös wäre von dieser Aufführung begeistert, aber die Zuschauerinnen und Zuschauer überlegen sich nach ihrem Besuch wohl zweifach, ob sie in ein Asien-Schnellrestaurant gehen wollen, denn dort könnten sie einen Zahn in der Suppe finden. Allen, die ihre Komfortzone des abonnierten Theatersessels wagen zu verlassen, sei der Besuch dieses Musiktheaters empfohlen!
Bernhard Stoelzel, 14. September 2025
Der goldene Drache
Peter Eötvös
Theater Hagen
Besuchte Premiere: 13. September 2025
Regie: Julia Huebner
Dirigat: Steffen Müller-Gabriel
Philharmonisches Orchester Hagen