Judas Ischariot Superstar

Papst Paul VI., während dessen Pontifikat das Stück 1971 in New York uraufgeführt wurde, hegte die Hoffnung, es könne zur Belebung des Interesses am Christentum beitragen und stimmte so keineswegs in das Empörungsgeschrei ultrakonservativer Gremien ein. In Weißrussland wurde es wegen der heftigen Ablehnung durch orthodoxe Kreise verboten, man stieß sich nicht nur an Jesus als Figur einer Rock-Oper, sondern auch daran, dass Judas in ihr entscheidend aufgewertet wurde und Pontius Pilatus ebenfalls in einem recht positiven Licht erschien. Nun, im schon immer überwiegend und noch weiter zunehmend heidnischen Berlin ist mangels Interesses an religiösen Dingen weder eine Re-Christianisierung noch eine weitere Abkehr vom christlichen Glauben zu erwarten, zu gleichgültig steht man demselben gegenüber, und das Interesse am durch die im Exil befindliche Komische Oper in der Vorsaison im Hangar 4 des ehemaligen Flughafens Tempelhof aufgeführten Messias ist ebenso wie das an Andrew Lloyd Webbers Jesus Christ Superstar zur Eröffnung der neuen Saison ein rein künstlerisches, richtet sich aber auch auf den Superlativ bei der Zahl der Mitwirkenden. Beim Messias betraf das den Riesenchor nicht nur aus den Berufssängern des Chors des Hauses, bei Jesus Christ Superstar geht es um das Ballett, das wesentlich dazu beiträgt, dass wohl die Zahl von 500 Mitwirkenden erreicht wird. Dabei handelt es sich zu einem großen Teil um tanzbegeisterte Laien, die sich, ohne eine Gage zu beziehen, rein aus Lust an der Freud des Dabeiseins in den Dienst der guten Sache stellten (Choreographie: Sommer Ulrickson). Rekorde aufstellen wollte und konnte man nicht nur durch die Zahl der Mitwirkenden, sondern auch durch die raffinierte, 1200 Lichtstimmungen zaubernde Lichtregie von Olaf Freese und Florian Schmitt. Kurzum, alles war auf Überwältigung ausgelegt und erreichte dieses Ziel nicht zuletzt auch durch die Einbeziehung der Orchestermitglieder in die Optik, indem man sie nicht in einem Orchestergraben verschwinden, sondern kostümiert zu einem Teil der Inszenierung werden ließ. Wer sich aber über die Ballons über der Riesenspielstätte wunderte, hätte sich darüber belehren lassen können, dass diese verhindern sollten, einen Hall wie in einem Kirchenschiff entstehen zu lassen. Rockkonzert sollte Rockkonzert bleiben, anstelle des Kontrabasses sollte ein elektrischer erklingen und als dieser identifizierbar bleiben.

Ex-Intendanten der Komischen Oper kehren offensichtlich nach ihrer Amtszeit gern wieder an ihr ehemaliges Haus zurück. Barrie Kosky ist ständiger willkommener Gast, sein Vorgänger Andreas Homoki, gerade aus der Intendanz in Zürich verabschiedet, stellte sich gemeinsam mit Philipp Stölzl, dieser allerdings nur in der Funktion als Bühnenbildner, der Mammutaufgabe auf dem Tempelhofer Feld.
Im Vorfeld hatte Homoki einiges preisgegeben an Ideen für die Inszenierung, sein besonderes Interesse an Pilatus bekundet und an dessen Hin- und Hergerissensein bei der Aufgabe, „eine Führungsfigur zu canceln“. Sein Augenmerk gilt auch den unterschiedlichen Verhaltensweisen der Unterdrückten während einer Fremdherrschaft zwischen Kampfeswillen, vertreten durch Simon, oder ihrer Hinnahme, wenn es um die „Auflösung hierarchischer Strukturen“ geht. Auch sieht die Regie das Werk eher als Rockkonzert denn als Rockoper, erinnert damit an die Form des Oratoriums, versucht Brüche nicht zu verschleiern, sondern lässt Szenen kontrastreich und nahtlos ineinander übergehen. Wer im Publikum auf Vertrautes wie Silberlinge, den Abendmahlskelch oder die Dornenkrone gewartet hatte, musste enttäuscht sein. Das Kreuz immerhin lässt an Strahlen, Funkeln, beinahe erdrückender Präsenz nichts zu wünschen übrig. Und auch wenn die bunte Menge und der Christus mit Wallehaar und ebensolchem Bart an Oberammergau denken lassen könnten, ist und bleibt die Aufführung doch ganz und gar Rockspektakel.

Das Augenmerk der Regie galt ganz besonders der Volksmasse, die einmal aus den Sängern der Komischen Oper bestand, ansonsten aus bis auf zeitweiliges Wut- oder Begeisterungsgeschrei stummen Darstellern, die sich aber hingebungsvoll ihren Aufgabe als Zujubelnde wie Verdammende widmeten. Die Arbeit mit den Solisten zeigte eine einfühlsame, die Figuren ernst nehmende und sie sensibel durch den bunten Trubel führende Hand. Atemberaubend und zugleich nachdenklich machend war die Führung der einzelnen Gruppen, besonders jener der so bizarr wie gefährlich wirkenden Priester mit dem Kajaphas von Daniel Dodd-Ellis an der Spitze. Eine grellbunte Gruppe führte der luxuriös-exotische Herodes von Jörn-Felix Alt an, Kevin(a) Taylor gab als Pontius Pilatus den Operettengeneral. Bei ihm schienen Kostüm und Regieauffassung nicht ganz zueinander zu passen. Der ehrliche Haudrauf von Simon wirkte in der Darstellung von Dante Sáenz geradezu sympathisch. Jeder der Mitwirkenden hatte seine Momente, konnte für Unverwechselbarkeit und Anteilnahme sorgen. Eine enorme Aufwertung hat in dem Stück bekanntlich die Figur des Judas Ischariot gewonnen, was Sasha Di Capri, nicht zuletzt mit Hilfe eines interessanten Outfits, durch schillerndes Spiel und ein- und nachdrücklichen Gesang unterstrich. Die Rolle des Jesus verlangt John Arthur Greene nicht nur Charisma ab, sondern in dieser Rockoper zudem eine immense vokale Leistung, die er abgesehen von einigen fahlen Tönen durchweg erbrachte. In seiner großen Szene vor seiner Gefangennahme sorgte er für Gänsehaut im Publikum. Die einzige weibliche Partie, die der Maria Magdalena, wurde von Ilay Bal Arslan mit keuscher Sinnlichkeit gespielt und beeindruckend gesungen.

Ein ganz besonderes, bewunderndes, uneingeschränktes Bravissimo gilt den überaus phantasievollen, prunkvollen, ihre Träger wundervoll charakterisierenden Kostümen von Frank Wilde. Dass sie auch ordentlich rocken können, bewiesen Orchestermitglieder der Komischen Oper, von Videowänden aus von Koen Schoots geleitet.
Ingrid Wanja, 19. September 2025
Jesus Christ Superstar
Rockoper von Andrew Lloyd Webber
Komische Oper Berlin
in Hangar 4 des ehemaligen Flughafens Tempelhof
Premiere am 19. September 2025
Inszenierung: Andreas Homoki
Bühnenbild: Philipp Stölzl
Musikalische Leitung: Koen Schoots
Orchester der Komischen Oper Berlin