
Auch wenn es seit über 17 Jahren wissenschaftlich bewiesen ist, dass die Großfürstin Anastasia Nikolajewna Romanowa beim Mord an der Zarenfamilie im Juli 1918 in Jekaterinburg ums Leben kam, war sie doch Teil eines der größten Mythen des 20. Jahrhunderts. Da zunächst nur zwei Kinderleichen gefunden wurden, entstand schnell das Gerücht, dass Anastasia, die jüngste der vier Töchter des letzten russischen Zaren Nikolaus II., die Ermordung ihrer Familie durch die Bolschewiken überlebt haben könnte. Auf Grundlage dieser Geschichte entstanden diverse Filme, darunter der bekannte Zeichentrickfilm Anastasia von Don Bluth und Gary Goldman aus dem Jahr 1997, der im Folgejahr in den Kategorien Beste Filmmusik und Bester Song für den Oscar nominiert wurde. Bereits hier waren Lieder wie Reise durch die Zeit und Es war einmal im Dezember enthalten. 2012 trat ein russischer Produzent an den Komponisten Stephen Flaherty heran, um aus seinen Liedern ein Musical rund um Anastasia zu machen. Zwar kam es zunächst nicht dazu, dennoch war die Idee geboren und Flaherty machte sich zusammen mit der Liedtexterin Lynn Ahrens daran, weitere Songs zu schreiben. Für das Libretto holte man Terrence McNally ins Boot. Er nahm den Film als Grundlage, legte die Story aber etwas weniger märchenhaft und entsprechend realistischer an. Zudem wurden die Figuren Rasputin und seine ihn stets begleitende Fledermaus komplett gestrichen; dafür wurde der Leutnant Gleb Vaganov als Gegenspieler in das Musical aufgenommen. Die ersten Vorstellungen fanden im Mai 2016 in Hartford, Connecticut, statt, bevor das Stück im Frühjahr 2017 am Broadway herauskam. Bereits in der Spielzeit 2018/19 holte Stage Entertainment das Stück nach Deutschland, für das Wolfgang Adenberg eine sehr gelungene Übersetzung anfertigte. Seit kurzem sind die Rechte auch für Produktionen von Stadttheatern freigegeben, woraufhin sich das Theater Bielefeld die Rechte sichern konnte.

Eine Besonderheit erklingt hierbei in Bielefeld aus dem Orchestergraben: In Übereinkunft mit dem Verlag wurde dem Theater gestattet, die für ein vergleichsweise kleines Orchester ausgerichtete Partitur neu zu arrangieren, sodass in Bielefeld weitere Musiker hinzugezogen werden konnten. William Ward Murta gebührt ein besonderes Lob für das wunderbar stimmige Arrangement, das die Bielefelder Philharmoniker unter seiner musikalischen Leitung hervorragend zu Gehör bringen. Als Regisseurin wurde Janina Niehus engagiert, die in den letzten Jahren vor allem in Tecklenburg regelmäßig als Musicaldarstellerin auf der Bühne stand. Dort zeichnet sie sich zusammen mit Jan Altenbockum zudem seit längerem für die Regie der etwas kleineren Familienstücke verantwortlich. Mit Anastasia inszeniert sie nun erstmals ein großes Musical und setzt hierbei auf einen eher abstrakten Ansatz und bewusste Reduktion. Da es aus der Zeit der Zarenfamilie lediglich Schwarz-Weiß-Fotos gibt, sind auch die Kostüme von Sebastian Ellrich überwiegend weiß. Dennoch lassen sie sich eindeutig in die Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts einordnen. Das Bühnenbild ist entsprechend minimalistisch gestaltet und besteht mehr oder weniger neben einigen Silhouetten aus Lichtröhren lediglich aus ein paar Treppen, Bänken und einer Hängebrücke. Dadurch soll der Fokus auf die Personen des Stücks gelenkt werden. Dies gelingt jedoch nur zum Teil, da immer wieder große Mengen Theaternebel eingesetzt werden, die die Sicht auf die Personen auf der Bühne erschweren. Auch der Ansatz, die Geschichte in Form der Erinnerungen von Großmutter Maria Fjodorwna zu erzählen, funktioniert nur bedingt. Allein die Tatsache, dass sie sich an einen Großteil der Handlung gar nicht erinnern kann, weil sie nicht dabei war, spricht gegen diesen Ansatz. Zwar kann man der Inszenierung gut folgen, insgesamt passiert auf der Bühne aber zu wenig, sodass sich insbesondere der erste Akt sehr in die Länge zieht. Gut gelungen ist dagegen das Wortspiel, dass in „Revolution” auch das Wort „Evolution” steckt, was das Bühnenbild geschickt aufgreift.

Die größte Stärke des Abends ist zweifellos die Musik. Wie bereits erwähnt, führt William Ward Murta das Orchester mit viel Gefühl durch die märchenhafte, symphonische Komposition. Auch die Hauptrollen sind treffend besetzt. Andreas Bongard und Carlos Horacio Rivas verkörpern die beiden Lebenskünstler Dimitri und Wlad Popov, die sich der Straßenkehrerin Anja annehmen und sie der Zarenmutter als deren Enkelin Anastasia vorstellen wollen. Bei beiden passt sowohl der Gesang als auch das Schauspiel. In der besuchten Vorstellung stand als Anja Hanna Kastner als Gast auf der Bühne, die in dieser Rolle bereits in Linz ihr Können unter Beweis stellen durfte. Aufgrund einer Erkrankung übernahm sie die Rolle kurzfristig für die ursprünglich vorgesehene Lara Hofmann. Hanna Kastner arbeitete sich innerhalb eines Tages so gut in die Inszenierung ein, dass es ohne den Hinweis auf die Umbesetzung vor der Vorstellung wohl nicht aufgefallen wäre, dass sie nicht an den regulären Proben teilgenommen hatte. Mit jugendlicher Leichtigkeit und viel Spielfreude schafft sie es, den Wandel der Hauptrolle von der Straßenkehrerin ohne Gedächtnis zur (vermeintlichen) Großfürstin glaubwürdig auf die Bühne zu bringen. Ein Wiedersehen gibt es durch diese kurzfristige Umbesetzung zudem mit Nikolaj Alexander Bruckner in der Rolle des Gleb Vaganov, der diese Rolle ebenfalls bereits in Linz verkörperte. Mit seinen beiden Solostücken sorgt Bruckner für zwei Höhepunkte des Abends. In der Rolle der Zarenmutter Maria Fjodorowna überzeugt die niederländische Musicaldarstellerin Betty Vermeulen, die bereits in unzähligen großen Musicalrollen zu sehen war. Auch der Rest des Ensembles ist treffend besetzt.

Insgesamt ist Anastasia in Bielefeld für Musicalfreunde musikalisch uneingeschränkt zu empfehlen. Die Inszenierung bleibt leider einer dieser Theaterabende, die man zwar gesehen hat, die aber nicht lange im Gedächtnis bleiben. Man hat das Gefühl, dass irgendwie mehr möglich gewesen wäre.
Markus Lamers, 28. September 2025
Anastasia – Das Musical
von Stephen Flaherty (Musik), Terrence McNally (Buch) und Lynn Ahrens (Gesangstexte)
basierend auf dem Film der 20th Century Fox in Zusammenarbeit mit Buena Vista Theatrical
Stadttheater Bielefeld
Premiere: 20. September 2025
Besuchte Vorstellung: 26. September 2025
Inszenierung: Janina Niehus
Musikalische Leitung: William Ward Murta
Bielefelder Philharmoniker
Weitere Aufführungen: 3.10. / 5.10. / 1.11. / 23.11. / 3.12. / 8.1. / 7.2. / 18.2.
(weitere Termine in Planung)