Nach Aufführungen von Verdis Nabucco in Düsseldorf und Köln konnte das interessierte Opernpublikum aus dem Rheinland Verdis erste große Erfolgsoper, die am 9. März 1842 an der Mailänder Scala uraufgeführt wurde, nun auch in Bonn erleben. Mit Roland Schwab hat die Bonner Oper einen renommierten Regisseur an ihr Haus geholt, der u.a. bei den Bayreuther Festspielen 2022 Wagners Tristan und Isolde inszeniert hat und dem 2025 eine großartige Inszenierung der Elektra von Richard Strauss an der Kölner Oper gelungen ist. Wie in vielen modernen Inszenierungen des Nabucco greift auch Schwab das politische Potenzial des Opernstoffs in Nabucco auf. Was 1842 bei Verdi und dem Mailänder Publikum vielleicht noch gar nicht so sehr im Fokus stand, gewann in den 1860/70er Jahren immer mehr an Bedeutung. Nabucco wurde als Verdis patriotische Oper schlechthin verstanden, der berühmte Gefangenenchor Va, pensiero avancierte zu einem Manifest des liberal und national gestimmten Bürgertums Italiens. Für Roland Schwab steht selbstverständlich dieser historische Bezug nicht im Vordergrund. In der Vorankündigung der Oper Bonn ist zu lesen: „Roland Schwab stellt in seiner Inszenierung die Themen Gefangenschaft und Macht ins Zentrum.“ Und Gefangenschaft ist in der Tat ein ganz wichtiger Motivstrang der Handlung. Nabucco, der König von Babylon, nimmt nicht nur die Hebräer gefangen, sondern seine Tochter Fenena lebt in hebräischer Gefangenschaft, verliebt sich dort in Ismaele, den Neffen des Königs von Jerusalem, und bekennt sich zum jüdischen Glauben, wodurch der weitere Konflikt vorprogrammiert ist.

Um Macht schließlich geht es nicht nur Nabucco, der sich sogar zum Gott erklärt, damit den Zorn Jehovas heraufbeschwört und dem Wahnsinn verfällt, sondern auch der Stieftochter Abigaille, die sich selbst zur Königin macht und Nabucco dazu bringt, das Todesurteil über die Hebräer und Fenena auszusprechen. Doch nicht Gewalt und Machtstreben Abigailles tragen im Libretto von Temistocle Solera den Sieg davon, sondern die Liebe Nabuccos zu seiner Tochter Fenena sowie seine Reue und Umkehr, die mit dem Lobpreis Jehovas zur Befreiung der unterdrückten Hebräer führen. Schwab misstraut in seiner Inszenierung diesem überraschenden und in der Rezeptionsgeschichte der Oper immer wieder als unglaubwürdig kritisierten lieto fine ebenfalls gründlich. Schon bevor die ersten Takte erklingen, ist auf dem starren Vorhang der Bonner Opernbühne in großen Lettern das Grundmotiv seiner Inszenierung zu lesen: „Der Fanatismus ist das tödliche Metronom, ohne das die Wiegenlieder des Terrors nie erklängen.“ Und in Schwabs Artikel für das knappe Programmheft heißt es über den Schluss der Oper mit Zaccarias triumphierenden Worten an Nabucco – „Servendo a Jehova, sarai de‘ regi il re!“ (Dienend Jehova wirst du der König der Könige sein) -: „Mit Sprüchen der Superlative schafft man keinen Weltfrieden. Das Ende von Nabucco strahlt in viele unserer Konflikte hinein, die aus krankhafter Selbstüberschätzung und narzisstischem Egoismus gemacht sind.“
Piero Vinciguerra hat ein Einheitsbühnenbild entworfen, das den Betrachter gleichsam in einen klaustrophobischen Guckkasten mit nur schwach farbig erleuchteten Seitenwänden und umgeklappter Rückwand mit pechschwarzem Hintergrund blicken lässt. Die bedrückende Gefangenensituation der Hebräer, die zu Beginn der Oper ihr Schicksal beklagen und Jehova um Rettung anflehen – die mitgeführten Celli erinnern dabei in beklemmender Weise an die von Häftlingen in NS-Lagern erzwungene oder aber zur Selbstrettung gespielte Musik-, wird noch gesteigert, wenn Nabucco als brutaler Sieger erscheint. Denn nun wird durch Hochklappen der Rückwand die Gefängnissituation komplettiert. Nabucco thront wie ein Mafioso mit Sonnenbrille, dandyhafter rosa Hose und gleichfarbigem Hemd rauchend in ausladendem Sessel über der hochgeklappten Rückwand, wobei die Militärstiefel ähnlich wie bei seiner Tochter Agibaille den absoluten Machtanspruch repräsentieren (Kostüme: Renée Listerdal). Nabuccos Schergen zerstören nicht nur die Instrumente der Gefangenen, sie besprenkeln die Szenerie mit Benzin. Nabucco bleibt es vorbehalten, mit dem Herab-schleudern seiner brennenden Zigarette ein fürchterliches Inferno anzurichten.
Das ist ein starkes Bild, und es wird noch übertrumpft im zweiten Akt, wenn Nabucco seinen absoluten, fanatischen Machtanspruch ins Unermessliche steigert und sich zum Gott erklärt. Wie eine überdimensionale Krone erscheint über seinem Haupt ein riesiges Stahlgerippe, auf deren Stahlbändern in roter Leuchtschrift u.a. mit den Namen Hitler oder Stalin fanatische Menschheitsverbrecher genannt werden und Aussagen autokratischer Herrscher zu lesen sind, deren beklemmende Aktualität unter die Haut geht: „Ich bin der Vater aller Völker“, „Es gibt keinen anderen Gott als Macias“ etc. Wenn sich nach der Gotteslästerung Nabuccos zuerst die Worte der Spruchbänder in Nullen und Zahlen verwandeln, dann auch diese verschwinden und das Stahlgerippe im 3. Akt zerstört am Boden liegt und dem wahnsinnigen Nabucco nun als fragwürdige Heimstatt dient, so mag hierin ein Hoffnungsschimmer angedeutet sein, dass aus fanatischer Selbstüberhebung verursachtes verbrecherisches Handeln großer Potentaten nicht ohne Strafe bleibt. Insgesamt gelingt es Schwab in seiner eher in der Gegenwart verorteten Inszenierung überzeugend, die überzeitliche Botschaft des Stoffs zu transportieren, ohne dabei in die Falle einer kurzschlüssigen Aktualisierung zu tappen. Allerdings hätte er dem Publikum durchaus zutrauen dürfen, die politischen Botschaften auch ohne permanente didaktische Spruchbänder entschlüsseln zu können.

Musikalisch steht die Aufführung in der Bonner Oper auf hohem Niveau. Das liegt in erster Linie an dem Dirigat Will Humburgs, der sich einmal mehr als Verdi-Spezialist par exellence erweist. Schon die Ouvertüre zeigt, mit welcher dramatischen Schlagkraft, aber auch mit welcher federnden Leichtigkeit Humburg mit dem glänzenden Beethovenorchester einen perfekten Verdiklang zu erzeugen vermag. Die großen Chorszenen der Oper (Chor- und Extrachor der Oper Bonn, Einstudierung: André Kellinghaus) zeugen von brodelnder Emphase, andererseits erweist sich Humburg als exzellenter Begleiter der Sängerinnen und Sänger, deckt diese nie zu und arbeitet gerade die lyrischen Feinheiten der Partitur wunderbar heraus.
Der georgische Bariton Aluda Todua ist als Nabucco eine Idealbesetzung. Er überzeugt nicht nur schauspielerisch auf ganzer Linie, indem er sowohl den brutalen Machtpolitiker als auch den gebrochenen, in Wahnsinn verfallenen, hilflos umherirrenden alten Mann und Vater ergreifend verkörpert, sondern auch stimmlich mit weit ausladendem, ungemein klang-schönem und warm timbriertem Bariton die widerstreitenden Gefühle Nabuccos ganz wunderbar interpretiert.
Erika Grimaldi, in ihrer italienischen Heimat an allen großen Opernhäusern, aber auch z.B. in München oder Zürich gerade als Verdiinterpretin gefeiert, singt die halsbrecherische Partie der machtversessenen Stieftochter Nabuccos beeindruckend. Mühelos meistert sie auch die extremsten Intervallsprünge in ihrer großen Arie Ben io t’invenni, o fatal scritto! zu Beginn des 2. Aktes, ohne dass dabei ihre Stimme an Phrasierungskunst und Ausdruckskraft einbüßt, die besonders in den lyrischen Passagen ihrer Partie bestechen. Insgesamt eine wirklich imponierende Leistung! Derrick Ballard als stimmgewaltiger Zaccaria, Ion Hotea mit hellem Tenor in der undankbaren Rolle als Ismaele, Charlotte Quadt als Fenena, Ralf Rachbauer als Abdallo und Christopher Jähnig als Hohepriester des Baal komplettieren eine Ensembleleistung der Bonner Oper, auf die das Haus wirklich stolz sein darf.
Das Publikum im ausverkauften Rund geizte nicht mit Beifall und feierte alle Beteiligten mit lang anhaltendem, ja geradezu frenetischem Applaus. Mit Nabucco ist der Oper Bonn eine Interpretation der erst dritten Oper des 28jährigen Verdi gelungen, die kein Opernfreund verpassen sollte.
Norbert Pabelick 5. Oktober 2025
Nabucco
Oper von Guiseppe Verdi
Theater Bonn
Premiere: 03. Oktober 2025
Regie: Roland Schwab
Musikalische Leitung: Will Humburg
Beethovenorchester Bonn
weitere Vorstellungen: 18.,19.,24.,31. Oktober 2025