
In seiner 2022 in Amsterdam uraufgeführten siebenten Oper Eurydice – Die Liebenden, blind widmet sich Manfred Trojahn einem zeitlosen Thema: der Frage, ob die Liebe den Tod überwinden kann. Die Oper greift den Mythos von Orpheus und Eurydice auf, aber aus der Perspektive von Eurydice. Bereits wenige Jahre zuvor hatte Matthew Aucoin (1990*) den Stoff auf ein Libretto von Sarah Ruhl nach deren gleichnamigem Schauspiel „Euridice“ aus dem Jahr 2003 vertont, das am 1. Februar 2020 an der Los Angeles Opera uraufgeführt wurde. Bei Trojahn ist Eurydice eine Schauspielerin, die sich auf ihre letzte Reise begibt. Auf ihrem Weg begegnet sie alten und neuen Bekannten. Orphée, der sich leidenschaftlich in sie verliebt, tritt urgewaltig in ihr Leben. Eurydice aber erinnert sich an ihr früheres Leben, verkörpert durch Männer, die sie einmal kannte, wie den Schaffner, den Kellner Augustin und den Dichter Olivier… Sie alle aber sind Pluton, nach dem sie sich verzehrt. Durch Proserpines Fürsprache gelingt ein erneutes Wiedersehen zwischen ihr und Orphée mit ungewissem Ausgang. In der klassischen Mythologie stirbt Eurydike durch einen Schlangenbiss. Orpheus steigt in die Unterwelt hinab, um sie zurückzuholen. Unter der Bedingung, dass er sich auf dem Weg zurück nicht nach ihr umblickt, darf er Eurydike an die Oberwelt führen. Im letzten Moment aber schaut er sich um, und Eurydike wird für immer in die Unterwelt zurückgezogen. Statt die Tragödie der Trennung zu betonen, thematisiert Trojahn in seiner Oper den Prozess des Kennenlernens der beiden. Der Untertitel „Die Liebenden, blind“ verweist darauf, dass die Liebe nicht immer klar und unproblematisch ist, sondern auch von Missverständnissen und Hindernissen geprägt sein kann. Ausgehend von der griechischen Sage hat Manfred Trojahn für sein Libretto auch vier Gedichte von Rainer Maria Rilke aus den „Sonetten an Orpheus“ verwendet. Den Zusehenden präsentierte sich an diesem Abend ein psychologisches Drama, musikalisch genährt aus traditionellen Quellen zeitgenössischer Tonalität und verführte und entführte in einen ausdrucksstarken Kosmos voller Formenvielfalt und Sinnlichkeit. Dem Publikum eröffnete sich zu Beginn der Blick in ein Zugsabteil. Fahrgäste, gekleidet in Anlehnung an Figuren aus der Commedia dell’arte, nehmen darin Platz, wiegen ihre Oberkörper zu einem monotonen Pochen, das an den Herzschlag erinnert. Schwarz gekleidet nimmt Euridice Platz.

Orphée ist der Jüngere, der sich in die weitaus erfahrenere Schauspielerin Eurydice verliebt. Die belgische Sopranistin Laure-Catherine Beyers verkörperte diese resolute, welterfahrene und doch in morbider Selbstverstrickung an Pluton gebundene Eurydice höhensicher und ausdrucksstark, während Martin Achrainer den um seine aufrichtige Liebe zu ihr betrogenen Sänger Orphée mit kräftigem Bariton in allen Registern verkörperte. Der zweite Bariton, Christoph Gerhardus, war ein eloquenter Pluton, Gegenspieler von Orphée, und ständiger Angelpunkt von Eurydices Liebesleben in den unterschiedlichsten Rollen. Die ukrainische Mezzosopranistin Lena Belkina verlieh ihre markante Stimme der Proserpine, Gattin von Pluton. Gerne erinnere ich mich an dieser Stelle an eine Aufführung der Neuen Oper Wien im Theater Akzent von Wolfgang Rihms Oper “Proserpina“ (2021), die diesen Mythos thematisierte. Juana Inés Cano Restrepos Inszenierung führte die sich verzweifelt nach neuem Leben verzehrende Titelheldin in emotionale Ausnahmesituationen in einer surrealen Ausstattung von Dietlind Konold, die auch die Kostüme entwarf. Plutons Reich wird durch eine Goldwand angedeutet. Hier begegnet Orphée zunächst Proserpine, gekleidet wie eine Königin aus der Renaissance. Die beiden tanzen, während Euridice mit Pluton in den Reigen einstimmt. Dirigent Walter Kobéra am Pult des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich entfaltet Trojahns vielschichtige Partitur mit kammermusikalischer Präzision. Für Trojahn gilt „Prima le parole, poi la musica“ und so setzt der Komponist auf erzählerische Elemente und fokussiert dabei auf die menschliche Stimme. Die Madrigalisten des Wiener Kammerchores unter Bernhard Jaretz trugen das Ihre zum großen Erfolg des Abends bei. Norbert Chmel besorgte die spannende Lichtregie. Tosender Applaus mit zahlreichen Bravi-Rufen beendeten den knapp 100minütigen Abend.
Harald Lacina, 17. Oktober 2025
Eurydice – Die Liebenden, blind
Manfred Trojahn
Neue Oper Wien
Premiere: 16. Oktober 2025
Regie: Juana Inés Cano Restrepo
Dirigat: Walter Kobéra
Tonkünstler-Orchester Niederösterreich