Baden-Baden: „Belcanto und die Wiedergeburt des Ziergesangs“, Cecilia Bartoli und Lang Lang

Wer könnte es besser ausdrücken als Jürgen Kesting, dem Kenner und Papst der großen Sänger: „Es ist nicht nur der Wohlklang der Stimme, die den tiefsten Zauber des Singens bewirkt. Vielmehr wird er ausgelöst von Klängen, die das Leben von Emotionen spürbar und selbst sichtbar werden lassen. Die Fähigkeit Cecilia Bartolis, ein Kaleidoskop an Empfindungen in einem Chiaruscuro (in der Malerei die Kunst Hell und Dunkel mittels einer Farbe darstellen zu können) von Farben zu malen, hebt sie heraus vor den meisten heutigen Sängerinnen. Wort und Musik werden zur sinnlichen und spirituellen Einheit gemacht.“
Lang Lang begleitete dieses weibliche Stimmwunder am Flügel. Er, eigentlich der klassische Konzertpianist, betritt ein neues Metier. Schon äußerlich nicht der Klavierbegleiter, den man gewohnt ist, nicht der solistische Star, dem ganze Orchester folgen. Er muss die Lieder und Arien auch von Wort und Thema interpretieren und mit Cecilia Bartoli so eine Einheit sein. Er spielte vollständig auswendig (?) – eine große intellektuelle Leistung. Dabei muss er den Gehalt von Dichtung und Operntext für sich neu erkennen, interpretieren und auf die Tasten umsetzen. Für beide Künstler ein Novum, mit dem sie auf Tournee gehen. In Baden-Baden die Premiere, Hamburg, Dortmund, Köln und Amsterdam werden folgen. Also großes Musiktheater und in allen Fällen ausverkaufte Häuser. Das Festspielhaus trug dem mit einem vergrößerten Platzangebot Rechnung und bestückte Orchestergraben und Bühne mit weiteren Stuhlreihen. Der Flügel verblieb aber in der Mitte der Bühne, Cecilia Bartoli für das dort platzierte Publikum zum Greifen nah und die Auf- und Abgänge mit raschelnder Seide sichtlich genießend.
Sensationell beide Abendroben: leuchtend rot ohne Schmuck im ersten Teil, quasi demütig wie Tosca, nur der Kunst ihr Leben weihend. Im zweiten Teil ein Farbwechsel zu gras-grün mit glitzerndem Schmuck, den Liedern und Arien auf dem Weg vom Belcanto zum Verismo entsprechend. La Diva schritt mit einer langen Schleppe – aber nicht nach hinten gerafft sondern vorneweg, bildete so eine Art Vorbühne, quasi Der Weg ist auch in der Musikgeschichte das Ziel.
Das war dann auch ihre Welt. Die Opernbühne mi ihrer außerordentlichen Präsenz. Da darf man voll Bewunderung ihr Geburtsjahr 1966 betrachten, dazu in Rom und eben als Sancta Cecilia, der Schutzpatronin der Musik. Dazu die erotische Stimme, die so in das Reich aller Sinne führt. Das Programm ist gebündelt nach den Komponisten, hier des Barocks. Alessandro Scarlatti (1660 – 1725), Tommaso Giordani (1730 – 1806), Giovanni Paisiello (1740 – 1816) und Georg Friedrich Händel (1685 -1759). Sie gibtdie große Arie aus dem Oratorium Il Trionfo del Tempo e del Disingammo. Cecilia Bartoli setzt wie gewohnt eine Dramaturgie der Kontraste: kleine Stretta und fast irrwitzige Beschleunigungen und dann Koloraturen. Fast gehauchte Cantabile-Arien angereichert, mit Messa di Voce-Effekten, typisch für den Kastratengesang. Die Tessitura hoch und tief ist eine Frage der Elastizität und diese durch ständige Übung erhalten.
Singen als befreiter Naturlaut. Das ist das Glück und sein bleibendes Gefühl, das La Gioiosa ihrem Publikum  vermittelt. Hier liegt ein wichtiger Punkt: Selbst wenn die Stimme Tribut an das Alter zollt. Das nimmt der Hörer heute als Petitessen. Im Auge und Ohr hat er die Erinnerung an absolute vergangene Glanzzeiten und Glanzleistungen. Das bedenkt er mit großem Beifall, und das sagen die Blumensträuße, die Sancta Cecilia aus dem Parkett auf die Bühne gereicht werden. Nicht geworfen – nein: sie beugt sich liebevoll von oben herab und verschenkt ihrerseits Glücksgefühl.
Zwischen den Liedern und Arien spiet Lang Lang die Übergänge: Händel, Rossini, Schubert und macht dem Zuhörer Herz und Luft frei für die nächste Gesangs-Pretiose. Es sind kostbare Miniaturen: Passend zum grünen Kleid Georges Bizets La coccinelle (Der Marienkäfer) mit dem Text von Victor Hugo. La Gioisa ist das wahre Kabarett, singt, spielt und karikiert. Wahrlich eine Zirkusnummer. Dann der wunderbare Triller aus Les filles de Cadix von Leo Delibes. Die vergessenen Komponisten werden sozusagen von Cecilia Bartoli aus dem Grab gehoben und bekommen die Hochachtung und den Applaus, den sie verdienen. Vivaldi, Händel, Scarlatti und Caldara sind für Cecilia zu Unrecht versunkene Opera proibita und die Arien werden gesungen. Der geschichtliche Hintergrund: zu Beginn des Settecento hatte Papst Clemens XI. das bereits bestehende Verbot der Oper als einer sündigen Kunst erneuert. Es gab zwei heilige Jahre und eben keine Oper. Aber Adel und auch kirchliche Würdenträger wollten darauf nicht verzichten, zumal in der Karnevalszeit. Cantabiles wurden von Kastraten gesungen, die den kirchlichen Würdenträgern als Lustknaben dienten. Heute singen Mezzosoprane die Kastratenarien.

© Marco Borrelli.


Lang Lang sorgte sozusagen für Erfrischungen zwischen den edlen Sünden mit leichten Improvisationen und Stücken von Franz Liszt (1811 – 1886), Puccini (1858 – 1924) und Claude Debussy (1862 – 1918). Claire de lune, da mochte man als Zuhörer leise mitsummen. Im zweiten Teil war mehr Oper – bis zu Puccini, Cecilia Bartolis eigentliche Bühne. E‘ l‘ uccelino, Terra e mare, Casa mia, Piccolo Walzer und  O, mio babbino caro aus Giovanni Schicchi. Es war wahres Verismo-Glück auf himmlischen Legatobögen.
Schluß und quasi Rausschmeißer Gioacchino Rossini’s La Danza. Eine neapolitanische Tarantella in 156 Sekunden zu schaffen. Man weiß nicht, ob das Metronom dabei zersprungen ist. Das Singen berauscht das rasante Tempo. Im Text „Frinche, frinche, mamma mia“, der Tanz zu den Mandolinen wird immer turbulenter und endet nach einem Triller in einer lang gehaltenen hohen Note.
Der Beifall brach los, die Blumen vom Haus waren riesige Sträuße, viele kleine Sträuße aus dem Publikum, das sich stehend drei Zugaben erklatschte: Non ti scordar di me von Ernesto de Curtis. Dann die Habanera aus George Bizets Carmen. Cecilia Bartoli mit Kastagnetten und ganzem Körpereinsatz. Auch das war noch nicht genug: O sole mio von Eduardo Di Capua zum Abschied. Möge der nicht zu lange andauern, denn mit den beiden Künstlern ist ein neues Paar am Musikhimmel geboren.
Wenn ein Sängerehepaar eine Tochter bekommt und ihr den Namen Cecilia gibt, der Schutzpatronin der Musik, dann bleibt dem Kind wohl nicht anderes übrig als auch Sängerin zu werden. Die Einigung über alle Grenzen hinweg begann 1982 mit der Geburt von Lang Lang, dem großen Klaviervirtuosen. Dreijährig begann sein Weg zur Meisterschaft – mit Chopins b-Moll Sonate begegneten sich Cecilia Bartoli und Lang Lang zum richtigen Zeitpunkt.
Das Chaos vor dem Festspielhaus mit Autos und Bussen von weit her könnte ein Signal für die Zukunft sein. Baden-Baden würde es guttun, nicht weiter im eigenen Chaos zu versinken, sondern mit mehr Kultur Menschen anzulocken, auch zu beglücken und so zum notwendigen Generationswechsel beizutragen – whatever it takes!

Inga Dönges, 2. November 2025


Musik vom Barock bis zum Verismo
Cecilia Bartoli und Lang Lang

Cecilia Bartoli, Mezzosopran
Lang Lang, Pianoforte

Festspielhaus Baden-Baden
Aufführung am 31. Oktober 2025