Duisburg: „Nabucco“, Giuseppe Verdi

Politisch aufgeladen wie kaum eine andere erscheint die Oper Nabucco von Giuseppe Verdi in Hinblick auf Entstehung, Inhalt und Rezeptionsgeschichte. Beginnt es doch, so wird erzählt, mit einem zufälligem Blick des von persönlichen Schicksalsschlägen und künstlerischem Misserfolg deprimierten Komponisten auf die Zeilen im Libretto: „Va, pensiero, sull’ali dorate… Oh, mia patria sì bella e perduta!“ Zu Deutsch: „Geh, Gedanke, auf goldenen Flügeln… Oh, mein Heimatland, so schön und verloren!“ Große Teile seines Heimatlandes befinden sich unter der Besatzung fremder Mächte, nämlich Frankreich und Österreich beziehungsweise deren absolutistische Marionetten. Liberal-konservative und demokratisch-republikanische Bewegungen versuchen, das Joch der Besatzer abzuschütteln und die verschiedenen Teile Italiens zu vereinen. Das Libretto von Temistocle Solera hat als Grundlage die biblischen Erzählungen aus verschiedenen Büchern des Ersten Testaments von der Eroberung Jerusalems 597 v.u.Z. durch die Babylonier unter König Nebukadnezar II. und der Verschleppung der judäischen Oberschicht in das Zweistromland. Nebukadnezar, italienisch Nabucodonosor, verkürzt Nabucco, hat in der Oper zwei Töchter: Zum einen Fenena, die den judäischen Königsneffen Ismaele aus Liebe zu ihm aus dem Kerker befreit hat, als er als Gesandter in Babylon weilte und mit ihm nach Jerusalem ging, und zum anderen Abigaille, die ebenfalls in Ismaele verliebt ist, aber im Laufe der Oper erfahren muss, dass sie eigentlich eine Sklavin ist. (Vermutlich hat der König erkannt, dass sie Machtqualitäten besitzt, und ihre Identität verheimlicht, um sie als Nachfolgerin aufzubauen). Um seine grenzenlose Macht zu zeigen, erhebt sich Nabucco zum alleinigen Gott aller Hebräer und Babylonier, woraufhin ihn der Schlag trifft.

© Sandra Then

Abigaille nutzt das Machtvakuum, um das Zepter zu ergreifen. Sie ordnet die Hinrichtung der Hebräer und auch Fenenas an. Nabucco aber erholt sich, übernimmt wieder das Kommando und befreit die Hebräer. Abigaille erkennt ihre Niederlage und nimmt sich mit Gift das Leben. Soweit der politische Plot der Oper, der um eine starke religiöse Dimension erweitert ist. Doch Verdi wäre nicht Verdi, wenn er nicht die Personen mit ihren Begehrlichkeiten, Nöten und Schicksalen in den Vordergrund stellen würde. Verschmähte Liebe und Eifersucht lassen Abigaille zur Rächerin werden, während Fenenas Liebe zu Ismaele auch zur Treue gegenüber den Hebräern führt.

Für Verdi wird die Uraufführung des Nabucco 1842 in der Mailänder Scala zum entscheidenden Erfolg – eigentlich wollte er das Komponieren nach dem vorangegangenen Flop aufgeben, doch nun gilt er als der erste Opernkomponist Italiens (als seine eigentliche Oper zum italienischen Einheitskampf gilt La battaglia di Legnano von 1849). Seitdem erfreut sich das Publikum an blechgepanzerter Musik, mitreißenden Melodien, herzzerreißenden Szenen, wuchtigen Chören und vor allem an phantasieorientalischen Kostümen und Dekorationen, quasi der kleineren Schwester von Aida. Doch zumindest in Mitteleuropa bekamen Verschleppung und drohende Hinrichtung des jüdischen Volkes mit der Shoa eine unvorhergesehene Aktualität, die mit dem 7. Oktober 2024 – dem Überfall der Hamas auf Israel und der anschließenden Vertreibung aus Gaza – neue Dimensionen erhalten hat. Eine heutige Inszenierung steht vor der Aufgabe, die Shoa, den größten Massenmord der Geschichte, nicht auszuklammern, aber auch nicht plakativ in den Vordergrund zu rücken.  Die Regisseurin Ilaria Lanzino umgeht an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg geschickt diese Herausforderung, indem sie die Konfliktlinie verschiebt, nämlich von der horizontalen – der zwischen Herrschern – zur vertikalen – der zwischen den beteiligten Völkern und deren und Herrschern. Dabei abstrahiert sie vom Kontext des babylonischen Exils und verallgemeinert den Konflikt in die Jetztzeit ohne konkrete Zuordnung. Jedes Chormitglied trägt individuelle Alltagskleidung.

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Mit fantasievollen Kostümen hebt sich die Oberschicht davon ab. Ein Dutzend Soldaten tragen blaue beziehungsweise rote Westen und Käppis und haben eine entsprechende Flagge (Kostüme: Carola Volles). Dem Chor kommt in dieser Inszenierung eine handelnde Rolle zu. Die beiden beteiligten Völker ertragen nicht länger, den Machtgelüsten der Herrschercliquen ausgeliefert zu sein, und wenden sich im Laufe der Handlung gegen sie. Zunächst wird der Blick des Zuschauers während der Sinfonia auf ein bühnenportalfüllendes Video von Andreas Etter und Fabio Stoll gelenkt, das Namensschilder der Protagonisten auf einem Konferenztisch für einen Friedensvertrag zeigt. Der Wasserkrug stürzt zu Boden, was kein gutes Zeichen ist. Dann kreist die Kamera um eine Modellbaustadt mit Wohnblocks, fährt eine Hauswand entlang und zeigt durch die Fenster Menschen bei diversen Alltagsgeschäften. Es gibt eine Explosion, Staub und Rauch steigen auf, der Vorhang öffnet sich, die Fassade liegt am Boden und wird von riesigen Spiegeln verstärkt. Die Fenster öffnen sich und die Überlebenden steigen aus ihnen heraus; der Vater birgt sein totes Baby, das er eben noch gefüttert hat, die schwangere Frau gebiert ihr Kind. Was für ein starker Beginn, der die Zuschauer in den Krieg katapultiert, zumal er synchron mit der Musik läuft! Die Hauswand bleibt die ganze Aufführung über der Boden für die Chorszenen. Über dem Ganzen schwebt dann eine säulenbestandene Galerie, auf der die Oberschicht ihre Auftritte hat (Bühnenbild: Dorota Caro Karolczak, raffiniert ausgeleuchtet von Thomas Diek). Im zweiten Akt montieren sowohl Abigaille und ihr Gefolge als auch die judäische Führung Sprengsätze an der Galerie, die genau dann explodieren, wenn Nabucco sich zum Gott erhebt; die Galerie stürzt ein. Der Konferenztisch taucht aus der Unterbühne auf für die Szenen im babylonischen Palast.

Die Völker haben mittlerweile Barrikaden aufgebaut, die die Roten von den Blauen trennen. Während des berühmten Gefangenenchores sitzen die beiden Kinder, die man eingangs durchs Fenster Flöte und Klarinette üben sah, mit ihren Instrumenten auf den Barrikaden; die Völker suchen Versöhnung über die Soldaten hinweg und singen ganz wunderbar und mit viel Gefühl. Anschließend werden sechs Leichensäcke von Soldaten vorne aufgereiht. Die Angehörigen nehmen voller Schmerz Abschied während Zaccaria Prophezeiung „Oh, chi piange?“ Neben solchen unmittelbar berührenden Szenen gibt es auch hintergründige. So spielen Kinder während des Terzettinos im ersten Akt, das Ismaele, Abigaille und Fenena von der hängenden Galerie singen, pantomimisch den Inhalt nach, machen das Beziehungsgeflecht also anschaulich. Später sieht man Nabucco der jungen Abigaille liebevoll die Haare bürsten und wenig später zu Boden schlagen; im dritten Akt kämmt sie dem verwirrten Nabucco die Haare und schlägt ihn wenig später zu Boden. Zum Schluss wird die Oberschicht, also alle Protagonisten außer Fenena, vom Volk an die Säulenreste gefesselt; Benzin wird verschüttet und Fackeln angezündet, aber Abigailles Schuldeingeständnis verhindert das Lynchen. Vertreter der Völker setzen sich friedlich an den Konferenztisch. Insgesamt fällt bei den Übertiteln auf, dass es Auslassungen und Anpassungen gibt; im Großen und Ganzen aber ist die Inszenierung stimmig und wegen der vielen Regiedetails und dem lebendigen, aktiven Choreinsatz wirklich sehenswert.

© Sandra Then

Hier Foto Nabucco 18 Beim Schlussapplaus gab es für das Regieteam viel Beifall und keine Ablehnung. Die Figuren erhalten individuelle Charakterisierungen. Nabucco ist der machtvolle Herrscher ebenso wie der hilflose, im edlen Rollstuhl sitzende Verwirrte und am Ende vorgeblich (man kennt das aus der Politik) reuevoll daherkommende König. Alexey Zelenkov überzeugt in allen Facetten mit gleichermaßen mächtigem wie kantablen Bariton. Svetlana Kasyan (Abigaille) hat zwar eine raumfüllende Sopranstimme, aber diese nicht immer unter Kontrolle, auch ist sie scharf, es fehlen Geschmeidigkeit und fließende Übergänge. Aber die hintergangene Frau, die sich selbst ermächtigt (ein moderner Charakter), nimmt man ihr ohne Zweifel ab. Fenena schlägt sich auf die Seite des hebräischen Volkes, wandelt sich auch optisch von der Königstochter zur einfachen jungen Frau, verteilt Wasser und steht am Ende abseits. Mit fließendem, warmen Mezzo gelingt Ramona Zaharia eine rollendeckende Darstellung. Die undankbare Partie des Ismaele (keine Arie, nur kurze Zweier- und Dreierszenen und Ensembles) ist mit dem Tenor Eduardo Aladrén angemessen besetzt. Der hebräische Hohepriester Zaccaria wird hier zum König der Judäer, was textlich durchaus passt, ruft er doch wiederholt zu Mut, Kampf und Widerstand auf. Shavleg Armasi verkörpert ihn mit geschmeidigem und volltönendem Bass. Überzeugen können auch Valentin Ruckebier als Oberpriester, Riccardo Romeo als Abdallo und ganz besonders Elisabeth Freyhoff in der sehr kurzen Rolle der Anna. Besonders Lob verdienen die drei Jugendlichen Anastasiia Buianevich, Lilly Maria Reisinger und Jonathan Matys, die die jungen Abigaille, Fenena und Ismaele als stumme Rollen mit der Souveränität professioneller Schauspieler verkörpern. Chor und Extrachor, einstudiert von Patrick Francis Chestnut geben flexibel die verschiedenen Stimmungen wie Wut, Trauer, Verzweiflung und Hoffnung wieder, weshalb die Chorpassagen großen Eindruck hinterlassen. Tadellos auch die Duisburger Philharmoniker und das leidenschaftliche wie sensible Dirigat vom GMD der Oper am Rhein, Vitali Alekseenok. Das Premierenpublikum war zu Recht begeistert von dieser musikalisch insgesamt hochklassigen und optisch originellen, spannenden, nachdenklich stimmenden und fast schon prophetischen Aufführung!

Bernhard Stoelzel, 9. November 2025


Nabucco
Giuseppe Verdi

Deutsche Oper am Rhein in Duisburg

besuchte Premiere: 8. November 2025

Inszenierung: Ilaria Lanzino
Musikalische Leitung: Vitali Alekseenok
Duisburger Philharmoniker

Trailer