Lieber Opernfreund-Freund,
Verdis Opernevergreen La traviata ist derzeit in Wiesbaden in einer Neuproduktion zu erleben, die nach dem fliegenden Holländer erneut mehr oder weniger nahtlos eine alte, äußerst erfolgreiche Inszenierung ablöst. Zwar misslingt die Neudeutung der Traviata, die in Zusammenarbeit mit der belgischen Opera Ballet Vlaanderen entstanden ist, nicht in gleichem Maße wie die der Wagner-Produktion, jedoch bedarf es bei der Arbeit von Tom Goossens erst eines Blickes ins Programmheft, damit sich die Ideen des Regisseurs vollends erschließen.

Auf den ersten Blick ist in Wiesbaden nun zumindest augenscheinlich eine sehr ökonomische Version von Verdis bis heute wohl größtem Erfolg, der 1853 nach der Vorlage von Alexandre Dumas‘ Kameliendame entstandenen Traviata, zu erleben. Ein Bühnenbild ist quasi nicht vorhanden. Bart Van Merode hat sich stattdessen auf das Lichtdesign konzentriert, das die bis auf das obligatorische schiefe Bühnenpodest leere Fläche in verschiedene Farben taucht. Dabei ist – den Beleuchter hat man sich also auch gespart – Violetta selbst die Regisseurin der Illumination, steuert deren Intensität und Farbgebung von einem fast überdimensionalem Lichtpult aus. Von moderner, drahtloser Fernbedienung ist man hier weit entfernt – dann könnte die Hauptfigur aber auch die Kontrolle über das Licht und ihr eigenen Lebens im 2. Akt nicht so bedeutungsschwanger beiseitelegen, um sie danach in die Hände des Schwiegervaters zu geben. Denn die Farbe des Lichts ist Ausdruck der Echtheit der Gefühle: die Partyszenen sind in Rot getaucht, in der Zweisamkeit mit Alfredo wird es immer weißer und klarer und ich verrate Ihnen, lieber Opernfreund-Freund, nichts Überraschendes, wenn ich Ihnen erzähle, dass sich die letzten Momente der Oper in gleißendem Licht, also in größter Klarheit vollziehen, der sich auch das Publikum nicht mehr entziehen kann. Diesem Ansatz folgend bezahlt Alfredo am Ende des zweiten Aktes seine Exfreundin auch nicht mit Geld, sondern wirft ihr farbige Folien vor die Füße, mit denen sie die Schweinwerfer bestücken und in ihrer aufgesetzten Scheinwelt bleiben kann.

Dass die wild durcheinander gewürfelten Kostüme nicht, wie ich einem Pausengespräch im Vorbeigehen entnehme, durch einen zufälligen Griff in den Kostümfundus entstanden sind, sondern Sietske Van Aerde und Lena Mariën diese in Anlehnung an die Gemälde von Otto Dix in detailreicher Kleinarbeit entwickelt und zum Teil handbemalt haben, erschließt sich erst beim Lesen des Interviews mit dem Produktionsteam im Programmheft. Die beabsichtigte Anlehnung an die Halbwelt der 1930er Jahre erkenne ich beim bloßen Zusehen so gar nicht. Der junge Tom Goossens will also recht viel mit seinem Ansatz, setzt aber für mich zu wenig davon um, punktet jedoch mit einer wunderbar spannenden Personenführung. Seine Interpretation gelingt außerdem trotzdem so gut, weil er sich auf tolle Sängerdarsteller verlassen kann. Lediglich Katleho Mokhoabane, der den Alfredo mit höhensicherem Tenor und samtenen Farben gestaltet, kann ich puncto Bühnenwirksamkeit nicht zu den anderen Hauptrollen aufschließen.

Sarah Young gibt die Violetta mit einer gelungenen Mischung aus Quirligkeit und emotionalem Tiefgang, präsentiert eine unglaubliche stimmliche Gelenkigkeit, weicht keinem Spitzenton aus und packt mich spätestens im Schlussakt auch mit intensivem Spiel. Vom ersten Moment an fesselt mich auch Sam Park als Germont mit seiner überragenden Bühnenpräsenz und dem kraftvollen und dabei nie groben Bariton, mit dem er den Saal bis in die letzten Reihen füllt. Aus der Schar der kleineren Rollen ragen Fabian-Jakob Balkhausen als Marquis d’Obigny mit nonchalant klingendem Bass und herrlich präsentem Spiel sowie Petra Urban hervor, die schon in der Vorproduktion von Nicolas Brieger als seelenvolle Annina hatte überzeugen können.

Die Damen und Herren des Chores überzeugen unter der neuen Leitung von Aymeric Catalano stimmlich wie darstellerisch auf ganzer Linie, während GMD Leo McFall im Graben durchaus sportliche Tempi anschlägt. Dennoch gibt der britische Dirigent der Musik gerade in den Vorspielen Raum, sich zu entfalten, arbeitet einzelne Instrumentengruppen klar heraus und präsentiert eine Traviata wie aus einem Guss, die mich zumindest musikalisch auf ganzer Linie zufrieden den Heimweg antreten lässt.
Ihr
Jochen Rüth
10. November 2025
La traviata
Oper von Giuseppe Verdi
Staatstheater Wiesbaden
Premiere: 1. November 2025
besuchte Vorstellung: 9. November 2025
Regie: Tom Goossens
Musikalische Leitung: Leo McFall
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden
weitere Vorstellungen: 22. November, 11., 14., 19., 26. und 31. Dezember 2025, 7. Januar, 1. und 13. Februar sowie 22. Mai 2026.