Hannover: „Carmen“

Premiere am 24. Oktober 2020

Corona-Fassung

Evgenia Asanova

Es hilft nichts: Wenn man Oper erleben will, muss man sich zurzeit mit aufs Wesentliche konzentrierten, sprich: gekürzten Fassungen zufrieden geben. Auf Manches, wie z.B. auf große Chorszenen muss man verzichten oder zuvor Eingespieltes ertragen. In Hannover erlebte man nun tiefgehende Eingriffe in eine der Opern schlechthin, Bizets „Carmen“. Die Hausregisseurin der Staatsoper Barbora Horáková und Dramaturg Martin Mutschler haben die Handlung deutlich reduziert, indem sie vor allem den 1.Akt änderten. So trifft Don José in Sevilla wohl eher zufällig auf die Freundinnen Frasquita, Mercedes und Carmen, in die er sich sofort verliebt. Sie ist so ganz anders als andere Frauen, die er bisher kannte. Anders auch als Micaëla, die von seiner Mutter aus dem baskischen Heimatdorf zu ihm geschickt wurde. Zwischen den beiden Frauen kommt es zum Streit, nach dem Micaëla vorgibt, Carmen habe sie verletzt. Den weiteren Fortgang kennt man aus der vollständigen Oper. Im Auftrag der Staatsoper hat der Komponist Marius Felix Lange mit einigen Modernisierungen und neu komponierten Überleitungen die Oper umgearbeitet. Im Graben saßen nun anstelle von Bizets großem romantischem Orchester nur 21 Instrumentalisten, die erstaunlich dichten Klang erzeugten. Dabei halfen allerdings die zusätzlichen Instrumente wie das Kontrafagott, Tuba, Vibraphon und Marimbaphon sowie jede Menge weiteres Schlagwerk. Dadurch gab es meist sinnvolle, manchmal auch weniger überzeugende Ergänzungen (ironisierende „Trompetenheuler“ im 3.Akt.). Höchst interessant waren das baskische Lied im 1.Akt, das der Komponist in das Duett von Micaela und José eingebaut hatte, und das besinnliche, wie eine Vokalise klingende Lied, das Carmen in „Caló“, der Sprache der spanischen Roma, sang.

Das Einheitsbühnenbild von Thilo Ullrich war ein von Stahlaufbauten umgebenes, teilweise von einer Leitplanke begrenztes Rund, das eine Art Arena suggerierte. Hier in einer der trostlosen Vorstädte Sevillas lungerten in moderner, fantasiereicher Kleidung (Eva-Maria Van Acker) ein paar junge Erwachsene herum. Dabei fiel negativ auf, dass die Regisseurin einen fast durchgehenden, nicht immer einsichtigen Aktionismus dieser Jugendlichen betreiben ließ, der vom Kern der Handlung zumindest teilweise ablenkte. So tobten sie z.B. mit dreirädrigen Gefährten mit Stierköpfen, mit Motorrädern und immer wieder mit Autoreifen und Getränkekisten herum, die sie von rechts nach links und umgekehrt platzierten; oder während der „Habanera“ wurde eine Filmszene gedreht (warum?).

Evgenia Asanova

Dazu kamen – meist zu längeren Arien der Protagonisten – Videos (Sergio Verde) mit Aufnahmen der gerade Singenden in verfremdeter Gestalt, deren Gestik sich nicht erschloss. Schließlich hörte man zeitweise von Schauspielern gesprochene Texte aus dem Off von Don José und Carmen, die einen Zusammenhalt des Ganzen herstellen sollten, was jedoch nicht gelang, zumal sie jedenfalls zu Beginn schlecht verständlich waren, da gleichzeitig mit der Musik gesprochen wurde. Eine weitere überflüssige Aktion war die als Stier verkleidete Carmen, die Escamillo bei seinem Auftrittslied umkreiste. Ein wichtiges Thema der Oper ist die Freiheit, die dadurch symbolisiert wurde, dass eine durch einen Scheinwerfer statt der Fackel in der Hand verfremdete Freiheitsstatue am rechten Bühnenrand aufgestellt war. Zur Darstellung der Freiheit von allen Zwängen gehörte wohl auch der Solotanz einer (fast) nackten Tänzerin zum Zwischenspiel vor dem 3.Akt. Noch ein Wort zu den sechs Tänzerinnen und Tänzern, die oft mit Mund-Nasen-Masken agieren mussten: In der lebhaften Choreographie von James Rosental boten sie im Sinne der vorwärtsdrängenden Dramatik des Stückes eindrucksvolle Tanzszenen, von denen der mit schwarzen großen Fächern spanische Folklore andeutende Tanz zum Zwischenspiel vor dem 4.Akt als besonders gelungen in Erinnerung bleiben dürfte.

Rodrigo Porras Garulo/Evgenia Asanova/Barno Ismatullaeva

Das internationale Ensemble der Staatsoper bot darstellerisch und sängerisch ansprechende Leistungen: Da ist zunächst die Carmen von Evgenia Asanova zu nennen; sie gefiel mit voll timbriertem Mezzo, mit dem sie allerdings – jedenfalls anfangs (Premierennervosität?) – nicht genau genug intonierte. Die vielschichtige Partie kommt für die noch junge Russin auch darstellerisch um Einiges zu früh, wirkte sie doch etwas ungelenk und eher wie ein nettes Mädchen ohne frauliche, erotische Ausstrahlung. Ihr Don José war beim Mexikaner Rodrigo Porras Garulo, neu im hannoverschen Ensemble, gut aufgehoben. Er setzte sich gestalterisch voll ein, was dazu führte, dass er seine tragfähige Stimme mit tenoralem Glanz bei den Spitzentönen so sehr an ihre Grenzen führte, dass man Sorge hatte, ob die Töne halten oder gar wegbrechen. Einen sehr positiven Eindruck hinterließ die Usbekin Barno Ismatullaeva, die mit ihrem in allen Lagen fülligen Sopran die Partie der Micaëla mit starker Ausdruckskraft und sicheren Höhen sang.

Germán Olvera

Der Mexikaner Germán Olvera versah den Stierkämpfer Escamilloim 4.Akt mit traditioneller Torero-Bekleidung mit der nötigen selbstgefälligen Eitelkeit und kam mit der tiefen Tessitura der Rolle gut zurecht. Die Argentinierin Mercedes Arcuri (Frasquita) überstrahlte mit beweglichem Sopran die Ensembles. Auch der helle, abgerundete Mezzo von Nina van Essen als Mercédès gefiel; beide überzeugten durch äußerst lebhaftes Spiel. Mit markantem Bass füllte Yannick Spanier den hier als Macho dargestellten Zuniga rollendeckend aus.

Der neue GMD des Hauses Stephan Zilias hatte den ganzen Apparat sicher im Griff und stellte mit klarer Zeichengebung die vielen dramatischen Ausbrüche ebenso ausdrucksvoll heraus wie die wegen des übertriebenen Bühnen-Aktionismus wenigen zurückhaltenden Momente.

Szenenapplaus ließ die gespielte Fassung kaum zu; nur nach Don Josés „Blumenarie“ und Micaëlas Arie im 3.Akt hielt das Orchester kurz inne, sodass starker Zwischenbeifall die jeweiligen Protagonisten belohnte. Am Schluss zeigte sich das Publikum begeistert, indem es bei allen Beteiligten, auch beim Regieteam, lang anhaltend applaudierte.

Fotos: © Sandra Then

Gerhard Eckels 25. Oktober 2020

Weitere Vorstellungen: 29.10.+4., 10., 15.,20., 25., 27., 29.11. etc