Die Zauberflöte und kein Ende… Man möchte das abgewandelte Zitat, das sich ursprünglich auf Goethe bezog, auch auf Mozarts vorletzte Oper münzen, denn immer noch erscheinen vermutlich fast jährlich Bücher, die den Sinngehalt des Werks festzuhalten suchen. Erst kürzlich hat sich Laurenz Lütteken mit der Oper befasst, um sie aus dem Geist der Aufklärung zu deuten und zum Ergebnis zu kommen, „dass die Vielgestaltigkeit der Welt sich nicht mehr von der einen Vernunft ordnen“ lasse. Nur die Musik, so der Zürcher Ordinarius, könne „diese Vielfalt überhaupt noch erfahrbar machen“ – was darauf hinauslief, in einem Thema, eben der Aufklärung, zugleich das Angebot diverser Deutungsmöglichkeiten zu entdecken, die wiederum allein von der Musik offenbart werden könnten: eine These, die eher musikphilosophisch als historisch grundiert erscheint. Mag sein, dass Lütteken in seiner Studie zum Werk nur Bekanntes neu fasste; Kenner der bereits vorliegenden Literatur wissen, dass die Meinungen zwischen den Polen Machwerk (das berühmt-berüchtigte und nach wie vor zum Nachdenken anregende 3. Bändchen der Reihe Musik-Konzepte trug 1978 den polemischen Titel Ist die Zauberflöte ein Machwerk?) und Bekenntnisstück, Märchen und Zeitdrama oder Unterhaltungstheater und Politthriller (als ob dies Gegensätze wäre….) hin- und herchangieren. Die Frage, ob es sich bei Schikaneders und Mozarts Singspiel-Oper um ein aus einem Punkt heraus verstehbares oder um ein denkbar vielfältig lesbares Opus handelt – diese Grundfrage ist nach wie vor nicht entschieden, wird vermutlich auch nie entschieden werden können. Als Jan Assmann 2005 mit Die Zauberflöte. Oper und Mysterium eine Monographie vorlegte, in der er, zunächst durchaus nachvollziehbar, das Thema der Initiation zum grundlegenden Motiv erklärte, erhielt er von den kritischen Lesern so viel Lob wie Schelte, weil er zwar eine stringente, die Dramaturgie ernst nehmende Analyse publizierte, aber all das vernachlässigte, was in einer Aufführung theatralisch zu wirken vermag; die bekannten Widersprüche der Dramaturgie, die vielleicht (vielleicht!) keine sind, wurden elegant hinwegdisputiert. Jacques Chailleys Entschlüsselung der Zauberflöte aus dem reinsten Geist des Freimaurertums, La flûte enchantée, opéra maçonnique, dürfte den Erleuchtetsten unter den Erleuchteten ein Begriff sein; Wolfgang Hildesheimer empfand sie als verschwurbelt. Als Helmut Perl in seinem posthum publizierten Werk über Mozart als Illuminat Die Zauberflöte als Kampfstück des sektiererischen Ordens gegen den Klerus anpries, konnte er sich zwar auf eine zeitgenössische Schrift berufen, handelte sich allerdings auch den berechtigten Vorwurf ein, dass seine Arbeit über Die Zauberflöte oft zu hypothetisch, ja: rein assoziativ vorgehe. Eine „letzte Deutung“ konnte auch er nicht vorlegen.

Im Licht der Zauberflöten-Ansichten, die seit Mozarts Zeiten über das Werk gegossen wurden, muss es indes nicht verwundern, dass die Spanne zwischen Machwerk und Autorwerk, zwischen wirrem Spektakel und thematisch eindeutigem Tendenzstück, unendlich groß scheint. Die Bruchlinien zwischen Ablehnung und Wertschätzung liefen und laufen oft sehr dicht nebeneinander her: Goethe, der den Text, einem apokryphen und einem halbwegs authentischen Zitat zufolge, sehr schätzte, brachte die Oper in einer verschlimmbessernden Fassung seines Schwagers Vulpius heraus – und machte das Werk zur meistgespielten Oper in Weimar und Bad Lauchstädt. Die Fragen bleiben also: Welche Intentionen hatten die Schöpfer der Zauberflöte? Wer schrieb überhaupt den Text? Und wenn wir wissen, wer ihn schrieb: Hat es Auswirkungen auf unsere Interpretation der (eindeutigen?) Absichten des Komponisten und des Textautors?
Der Niederländer Tjeu van den Berk hat nun, ganz in diesem Sinn, eine mit 400 Textseiten sehr umfangreiche Generaldeutung der Zauberflöte vorgelegt, die sie in aller Eindeutigkeit als „alchemistische Allegorie“ zu dechiffrieren sucht. Dem „Wildwuchs an Meinungen“ stellt er eine neue entgegen, die mit der gängigen Freimaurergeschichte den Anknüpfungspunkt besitzt, dass die Freimaurer, so der Autor, seit je her und besonders in Mozarts Wiener Zeit über intime, auch praktische Kenntnisse der Alchemie verfügten. Grundlage seiner Übersetzung der durchaus nicht als wirr, inkonsistent und widersprüchlich gelesenen Zauberflöten-Geschichte ist ihm ein 1816 in Italien publizierter Text eines Anonymus, der bei der Uraufführung im Jahre 1791 selbst dabei gewesen sei. Kurz gesagt: Die Handlung der Oper, so van den Berk, beschreibe, so der anonyme Autor von 1816, die Phasen eines alchemistischen Prozesses, „in dem die unterschiedlichen Figuren als Edel- oder Unedelmetalle fungieren und Transmutationen erfahren“ würden. Die Zauberflöte also als Handlung, die etwas zeige, was nur von den „Eingeweihten“ (O-Ton Zauberflöte) erkannt und verstanden werden könne: hier die äußere, dort die „wahre“ Handlung, in der jedes Wort, jede Geste, jede Bühnenanweisung und jede Szene einen festgefügten und völlig logisch nachvollziehbaren Platz im Rahmen eines alchemistischen Prozesses habe – womit, denkt der Kenner des Assmann-Buchs, van den Berk gar nicht so weit von all jenen Deutern entfernt ist, die in der Initiationsgeschichte das Eigentliche des Werks sehen. Nur, dass der Bezug auf die äußerst vielfältige und vor Allem: explizite alchemistische Symbol- und Realwelt so eindeutig zu sein hat, dass man als normaler Opernbesucher gern seine Zweifel haben kann. Doch sprach nicht Mozart selbst von jenen Zuschauern, die nicht nur die Späße des Stücks goutieren, sondern auch den wahren Sinn der Zauberflöte zu verstehen vermögen? Eine Briefstelle lässt zumindest diese Interpretation zu, aber vielleicht meinte er auch „nur“ die Musik.
Van den Berk macht also mit dem Bildreichtum der Alchemisten bekannt, um, beispielsweise, in Papageno den Mercur / Hermes, in Pamina das Salz und in Tamino den Schwefel und den neuen Orpheus der Alchemisten zu entdecken. Er erklärt uns die „drei Prinzipien“, erläutert uns die komplexen und gelegentlich zunächst widersprüchlich erscheinenden Einzelphasen der Reinigungs- und Trennungs- und Verschmelzungsprozesse der Stoffe und Elemente – und entdeckt in der Zauberflöte all diese Gestalten und Handlungen. Der stärkste Gewährsmann ist ihm Paracelsus (der übrigens in Salzburg starb, aber das nur nebenbei), der das alchemistische Wissen der Epoche zusammengefasst hat. Bei der Zauberflöte handelt es sich also, so der Autor, nicht um ein Werk der Ägyptomanie, die dem Stück nur äußerlich sei, sondern um eine Geschichte, deren Sinn hinter der Geschichte und den Ornamenten liege. Dabei kommt durchaus Verblüffendes zutage: Dass Sarastro der Sonne und die Königin der Nacht eben dem Nachtgestirn zugeordnet ist, ist trivial, aber dass Sonne und Mond im alchemistischen System spezifische Aufgaben haben, ist neu. Dabei beißt sich die herkömmliche Deutung nicht immer mit der alchemistischen, sondern wird differenziert erweitert; die Feuer- und Wasserprobe und die Führung Taminos durch die Frau gerät in unmittelbaren Kontakt mit dem Opus mulierum der Alchemisten. Kein Detail, keine Szenenangabe, keine Figurenbeschreibung (Papagena als zunächst alte Frau sei, so van den Berk, mehr als ein Theaterspaß), keine geographische Bezeichnung (Tamino läuft etwa, so Sarastro im 2. Akt, am Nordtor, nicht an irgendeinem anderen Tor herum), die nicht irgendeine Entsprechung zur gut bezeugten und literarisierten Welt der Alchemisten fände, um am Ende den Schluss zu erlauben, dass sich die Protagonisten der Zauberflöte – auch Papageno – auf einen Weg begeben, auf dem schlussendlich das Große Werk, die Chymische Hochzeit der Rosenkreuzer, gelingt: Der Stein der Weisen wird nach den albedo – und rubedo-Prozessen gefunden, weil der Mensch sich seelisch weiter entwickelt hat. Denn die Alchemisten fahndeten, wenn sie geistig unterwegs waren, nicht nach einem Edelmetall, sondern einem inneren Schatz. Eben gut freimaurerisch.
Um hinter das Geheimnis der Zauberflöte zu kommen, hat van den Berk auch die zeitgenössischen Illustrationen zu den ersten Aufführungen und den Textbüchern ausgewertet. Dass Papageno in der berühmten ersten Papageno-Abbildung einen Pfauenschwanz besitzt: dieses im Sinne Goethes „bedeutende“ Detail (eines von 1000 anderen offensichtlich bedeutenden Details) der Figur, die nicht zufällig, so der Deuter, mit einem besonderen Fußwinkel konterfeit wurde, wird der Gesamtinterpretation wie selbstverständlich eingeschmolzen – weil sie sich tatsächlich auf 1001 Einzelheiten beziehen kann, die dem alchemistischen System eingeschrieben sind. Doch wer wäre in der Lage gewesen, eine derart tiefgehende und detailreiche Geschichte zu versifizieren? Der alte Streit um die Autorschaft des Textbuchs wird von van den Berk aktualisiert, indem er sich – mit guten und philologisch nachvollziehbaren Gründen – für Carl Ludwig Giesecke als den Hauptautor ausspricht. Die Beweislast ist eindeutig: der hauptamtlich als Autor in der Theaterfabrik Schikaneder angestellte Giesecke hatte das Zeug dazu, einen derart mit alchemistischer Symbolik überladenen (Sub-)Text zu verfassen – van den Berk hat sich die von Giesecke verfassten anderen Stücke und dessen Bibliothek, seine wissenschaftlichen und seine geistigen Interessen, wie kein zweiter Autor vor ihm, genau angeschaut, um zum Schluss zu kommen, dass Schikaneder tatsächlich nur die Schlussredaktion des Librettos vorgenommen haben könnte und die von Julius Cornet spät mitgeteilte Aussage Gieseckes, er sei der Autor der Zauberflöte gewesen, aufgrund von dessen nachweislich besessenen Büchern und dessen authentischen Texten nicht angezweifelt werden muss.
Es ist ein bisschen wie in einem Indizienprozess: mag der Beweis auch fehlen, so lässt die Fülle der Anzeichen nur den einen Schluss zu: Giesecke hat, um dem Publikum von 1791 eine aktuelle Geschichte zu bieten, all sein know how aufgeboten, um eine verschlüsselte Allegorie über die Formung des Menschen zu einer vollkommenen Persönlichkeit auf die Bühne zu bringen, ohne die Bedürfnisse der „einfachen“ Zuschauer zu vergessen. Dass Mozart dafür der rechte Partner war, wird durch dessen Bibliothek und Aussagen bezüglich der Aufklärung nicht widerlegt, sondern – und wieder geht es um Indizien, nicht um Beweise – bestätigt. Dagegen könnte man einwenden, dass es pures Wunschdenken ist, im berühmten Wiener Logenbild, das zu einem Schlüsselobjekt für die Generaldeutung wird, Schikaneder und Mozart und Giesecke in personam zu erkennen. Ob es sich hier um eine Loge oder eine sogenannte Winkelloge handelt: Auch diese Frage ist umstritten – aber die Ikonographie, samt Hermes mit papagenohaft gestellten Füßen, lässt kaum eine andere Antwort zu, als dass zwischen den ersten, symbolisch überreichen Zauberflöten-Illustrationen von Rafael Alberti, die von van den Berk in vergleichsloser Weise unter die Lupe genommen wurden, und der alchemistisch interessierten Freimaurer-Szene Beziehungen bestehen, die en detail herausgearbeitet werden. Mir ist keine Publikation bekannt, in dem die „bekannten“ Alberti-Bilder des ersten Textbuchs der Zauberflöte so akribisch auf ihre Vorlagen hin gedeutet werden. Der Laie staunt, was man alles in diesen Graphiken entdecken kann – und der Fachmann wundert sich, dass bislang so viel an alchemistischem Bildsinn und -gut übersehen werden konnte. Mit einem Wort: augenöffnend, auch wenn einige wenige Mikroanalyse kaum am Material verifiziert werden können.
Der Rezensent gesteht, dass er nach der Lektüre des Buchs zum Einen von der außerordentlichen Dichte der Bezüge zwischen den Figuren & Szenen der Zauberflöte und der alchemistischen Bild- und Prozesswelt (ein paar rein assoziative Schwachheiten mal beiseite gelassen), überwältigt ist. Wie im Nebenbei, das ist besonders reizvoll, klären sich auf alchemistische Weise Fragen, die man sich gestellt hat, seitdem man als Kind Die Zauberflöte sah: Wieso begegnet Pamina zuerst dem Papageno, nicht dem Tamino? Wieso hält der weise Sarastro einen bösen Mohren in seinem Hofstaat? Welche Funktion haben das Terzett und Paminas Selbstmordversuch – und wieso folgen sie so seltsam aufeinander? Das alles wird in seinen Zusammenhängen völlig widerspruchsfrei erläutert, anders ausgerückt: die vielgescholtene Dramaturgie des Stücks wird, wie von Jan Assmann, vollumfänglich rehabilitiert. Auch die Musik, auch die fünf Musikinstrumente spielen, wie beim Lied der beiden Geharnischten, eine gewichtige und durchaus verblüffende Rolle. Ähnlichkeiten mit alchemistischen Musiküberlegungen mögen zufällig sein – aber sie sind erweisbar. Zum Anderen hat der Rezensent seine Zweifel an einer Interpretation, die zu eindeutig ist, als dass sie dem Motivreichtum des Werks gerecht werden könnte, das sich auch den 1791 bereits gängigen, also konventionellen Traditionen der Wiener Schikaneder-Bühne und des Wiener Volkstheaters verdankt, aber vielleicht ist dies ja schon eine Selbsteinschränkung des Betrachters. Nichts hindert ihn daran, die Zauberflöte weiterhin als Politparabel, als Märchenstück für große und kleine Kinder und als Bildungsroman zu erleben. Wagners Ring des Nibelungen ist ja auch wesentlich mehr als ein Werk. Wäre es das, wäre es dramaturgisch langweilig – und szenisch unergiebig. Es ist wie mit dem vierfachen Schriftsinn der mittelalterlichen Theologen: Die Zauberflöte kann man so gut historisch (der Kampf eines Ordens gegen die Kirche) und allegorisch (der alchemistische Reinigungsweg) wie moralisch (die philosophisch grundierte Auseinandersetzung mit Gut und Böse) und anagogisch, also in Bezug auf die Hoffnung (das utopische Potential der sonnenerhellten Aufklärung), interpretieren. In diesem Sinn hat van den Berk nur eine der möglichen, jeweils eindeutigen, insgesamt jedoch mehrdeutigen und sich durchaus nicht immer widersprechenden Auslegungsarten vorgestellt.
Die nächste mehr oder weniger überzeugende steht sicher schon in den Startlöchern.
Ps: Man hätte der deutschen Ausgabe einen guten Redakteur gewünscht – die sprachlichen Eigenheiten der von Frans Lucassen erstellten Übersetzung aus dem Niederländischen sind denn doch, nun ja, gelegentlich ungelenk.
Frank Piontek, 15. Juni 2025
Tjeu van den Berk:
Die Zauberflöte. Eine alchemistische Allegorie
429 Seiten, 88 Abbildungen
Salier Verlag, 2023