Buchkritik: „Pál Ábrahám – Zwischen Filmmusik und Jazzoperette“, Karin Meesmann

Wiedergutmachung

Als erstes flößt Karin Meesmanns Buch mit dem Titel Pál Ábrahám-Zwischen Filmmusik und Jazzoperette Ehrfurcht ein, ganz profan wegen seines mehrere Kilo umfassenden Gewichts (man ist froh, dass man es nicht bei der Post abholen musste, weil ein Nachbar sich seiner annahm), dann wegen des Portraits auf dem Titelblatt, das einen Komponisten mit schwermütig gesenktem Blick zeigt. Das Foto stammt aus dem Jahr 1938 und wurde aufgenommen, als der in den Zwanzigern und frühen Dreißigern in Berlin und anderswo in Deutschland gefeierte Komponist im italienischen, heute kroatischen Ausland sein Auskommen suchen musste, ehe er mit dem Umweg über Kuba in den USA landete, verwirrt auf einer Kreuzung zu dirigieren versuchte und in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht wurde. Beinahe obszön wirken in diesem Zusammenhang die ebenfalls auf dem Cover abgebildeten blonden Schönheiten, die des Komponisten Musik auf der Bühne und im Film zum Erfolg verhalfen, bleiben durften wie Lilian Harvey oder Marika Rökk oder ebenfalls emigrierten wie Gitta Alpar oder Fritzi Massary.

Nach einer Einleitung, in der die Autorin die Quellen von Ábraháms Musik, zumindest der ihm Erfolg bringenden, den Verbunko der Zigeuner und den afroamerikanischen Jazz, und die von ihr benutzten Quellen wie Rezensionen, Daten, Briefe, amtliche Dokumente und mehr, nennt, und dem Prolog, der das Ende der Lebensgeschichte vorwegzunehmen scheint, geht sie chronologisch vor, so dass sich nach 500 Seiten ein Ring zu schließen scheint. Danach gibt es noch ca. fünfzig Seiten Anhang, vor allem ein umfangreiches Personenregister.

Nach Deutschland, aus dem er fliehen musste, wird der schwerkranke, wegen einer nicht ausgeheilten Syphilis dement gewordene Komponist mit anderen Unglücklichen zurückgeschickt, wo er, wie der Leser ganz am Schluss erfährt, noch einige Jahre in einer Anstalt, aber auch in häuslicher Gemeinschaft mit seiner in Europa gebliebenen Ehefrau verbringt. 

Bereits in diesen ersten Kapiteln kann der Leser die weite stilistische Spanne zwischen das Gefühl aufwühlender Belletristik und streng wissenschaftlicher, mit vielen Anmerkungen versehener Abhandlung bewundern und goutieren, dazu sich an dem vielfältigen Bildmaterial erfreuen. Natürlich betritt Meesmann mit der Schilderung einer Zeit, in der man noch nicht von einem N- oder einem Z-Wort, das man heute auf keinen Fall benutzen darf, sprach, sondern sich der Begriffe ungeniert bedienen durfte , stark vermintes Gelände, tut aber das einzig Richtige, indem sie über diese Zeit in den damals üblichen Begriffen ohne sprachliche Verrenkungen schreibt.

Allein fast fünf Seiten umfasst das Inhaltsverzeichnis, das es dem Leser erlaubt, sich allein durch das Lesen desselben bereits ein wenn auch oberflächliches Bild dessen zu verschaffen, was ihm bevorsteht. Es geht um die Herkunft Ábraháms aus der erst ungarischen, nach 1919 serbischen Batschka, in der übrigens bis 1945 auch viele deutsche Siedlungen waren. Oft wird ein Stein namens Pál Ábrahám ins Wasser geworfen und zieht weite Kreise, so die Geschichte der ungarischen Oper oder die des ungarischen Films, die Musik der Roma, die ungarische Volksmusik, und in einem Exkurs gibt es sogar eine Analyse mit Notenbeispielen aus Viktoria und ihr Husar. In einem ständigen Wechsel zwischen Biographischem und allgemein Historischem wie der Entwicklung des Antisemitismus in Ungarn wird übergegangen zu ersten Kompositionen wie einer Ungarischen Serenade, einem Cellokonzert und einer Puppenoper, und es wird deutlich, dass Ábrahám seine Zukunft eigentlich in der Oper, in jedem Fall aber in der Klassik sah, durch erste Erfolge mit Chansons aber in eine andere Richtung getrieben wurde, wozu auch das Studium an der Handelsakademie und die Gründung einer Agentur gehörten.

Die „Revolution des Gesellschaftstanzes“, die Hinwendung zu Charleston und Shimmy eröffnet neue Möglichkeiten im Komponieren von „Futtermusik“, die ihren Erzeuger ernähren kann. Das Buch vermittelt einen Überblick über diese aus Amerika stammende Unterhaltungsmusik, zeigt zudem auf, wie Ábrahám zu Jazzrevue und Filmmusik kam, über Kompositionen zur Begleitung von Stummfilmen, zu seiner ersten Operette Zenebona und dem ersten großen Erfolg mit Viktoria und ihr Husar, wo das seriöse Paar noch Walzer tanzt, während beim Buffopaar Foxtrott und Csardas den Ton angeben. Um die Figur von Ábrahám herum entfaltet die Autorin ein detailreiches Bild vom kulturellen Leben der Zwanziger, einschließlich Josefine Baker und Jonny spielt auf, der Neuaufstellung des Orchesterapparats einschließlich Jazzinstrumenten, der Geschichte des Tonfilms im allgemeinen und der UFA im besonderen. „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ ist nicht von Ábrahám, aber der Text stammt von einem der Gebrüder Rotter, die eine wesentliche Rolle im Buch spielen. Über deren tragisches Schicksal erschien vor einiger Zeit ein umfangreiches Buch. Die Musik zum Erfolgsfilm Die Drei von der Tankstelle kann Ábrahám nicht komponieren, weil er erkrankt, doch mit Ball im Savoy, Die Blume von Hawaii, Märchen im Grandhotel und Roxy und ihr Wunderteam schreibt er sich in die Annalen der Operetten- und Filmmusik.

Eine weite Spanne ist es zwischen der Darstellung der Aufführungspraxis der Jazzoperette zum tragischen Schicksal der Renate Müller, der Privatsekretärin im gleichnamigen Film mit der Musik von Pál Ábrahám, so wie zwischen den flotten Unterhaltungsfilmen der Zwanziger und Dreißiger und ihren lauen, flauen Remakes in den Fünfzigern. Vermarktung und Urheberrechte und die Entstehung des Schlagers „Ich bin ja heut‘ so glücklich“ aus einem Ausruf werden gleichermaßen berücksichtigt, Otto Braun und der Preußenschlag  sowie Carl von Ossietzky behaupten sich neben den großformatigen Filmplakaten und den Ansichten der Villa in der Fasanenstraße, derer sich das Paar nur für kurze Zeit erfreuen kann. Da ist es gut, dass vieles auch in die Anmerkungen ausgelagert wurde, damit der Leser den Überblick nicht verliert. Mit Begriffen wie dem der „Reichsfluchtsteuer“ deutet sich das kommende Unheil an, für kurze Zeit bieten Wien, Budapest, Holland noch Auftrittsmöglichkeiten, ehe Austrofaschismus und schließlich der Krieg  Scharen deutscher und aus anderen Ländern stammender Künstler in die USA treiben, wo es wohl noch Arbeiten an einem Potemkinfilm gibt. Ein Appell von Künstlern erwirkt nach 1945 die Rückführung des Komponisten nach Deutschland- oder war es eine Abschiebung? Nach einer Knieoperation stirbt Ábrahám in Hamburg. Ein Epilog würdigt ihn u.a. als Erfinder der Jazzband im inner circle inmitten des Orchesters und sieht eine Art Wiedergutmachung an der Berliner Komischen Oper, früher Metropol Theater, durch Barrie Kosky. Als solche kann sich aber auch dieses so sympathische wie faktenreiche Buch ansehen. 

Ingrid Wanja, 5. September 2023


Pál Ábrahám
Zwischen Filmmusik und Jazzoperette
von Karin Meesmann

Hollitzer
Wien 2023
550 Seiten
ISBN 978 3 99094 016 7